Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die Rückkehr eines Giganten
Enthusiasten wollen das legendäre Flugschiff Do X nachkonstruieren – Dafür brauchen sie nicht nur Technikbegeisterung, sondern auch detektivischen Spürsinn – Demnächst soll Baubeginn sein
Von sechs auf, nein, nicht 66, wie erlaubt, sondern auf 169 stieg die Zahl. Auf 169? Die Menschen sind außer sich, können es nicht fassen, was sie an jenem 21. Oktober 1929 sehen: Die Do X, ein riesiges Flugschiff, hebt an jenem Tag mit 169 Passagieren ab – zugelassen gewesen wären 66, üblich zu dieser Zeit waren Flugzeuge mit sechs – und schwebt 53 Minuten über dem Bodensee. Die Welt hält den Atem an. Peter Kielhorn, ein mittlerweile pensionierter Ingenieur, hat die Zeit nicht selbst erlebt. Aber wenn der ehemalige Dornianer aus den ihm vorliegenden Quellen erzählt, kehrt der „erste Jumbo der Lüfte“in Gedanken zurück. Dabei belassen will es Peter Kielhorn aber nicht: Gemeinsam mit Gleichgesinnten und vielen Studentinnen und Studenten arbeitet der 64-Jährige mit Feuereifer daran, das legendäre Dornier-Großraumflugschiff, das am 12. Juli 1929 seinen spektakulären Erstflug hatte, wiederauferstehen zu lassen.
Die Do X: 40 Meter lang, 10,1 Meter hoch, Spannweite 48 Meter. Abfluggewicht 52 000 Kilogramm, Leistung: 7680 PS (Curtiss-Motoren), Reichweite maximal 1520 Kilometer, Höchstgeschwindigkeit 210 Kilometer pro Stunde – das größte Flugzeug seiner Zeit. Nach dem gefeierten Erstflug startet sie am 5. November 1930 zum Transatlantikflug, der am 27. August 1931 mit einer Wasserung des Giganten auf dem Hudson-River in New York seinen Höhepunkt findet. „Um 11.10 Uhr sind wir über New York, umfliegen die Freiheitsstatue, dann geht es den Hudson aufwärts bis zur HudsonBrücke, im weiten Bogen zurück über die Stadt, vorbei an den Wolkenkratzern“, schrieb Maurice Dornier, Bruder von Flugzeugpionier Claude Dornier, dem Vater der
Do X, über den triumphalen Empfang in New York. „Dächer und Straßen sind schwarz von Menschen, die Sirenen der Dampfer dringen bis zu uns herauf, trotz unserer zwölf Motoren. Am Hafen stehen Tausende und winken und warten auf die Landung. 11.30 Uhr landen wir vor der Battery…“Deutschland, im Flugfieber, steckt die ganze Welt an.
Ein Fieber, das wieder kursiert und zunehmend Menschen ansteckt, seitdem Peter Kielhorn 2014 die Vision hatte, die Do X wiederauferstehen zu lassen. Es ist ein trüber Wintertag, der Projektleiter sitzt am Smartphone – wie auch Michael Schliep, leitender Do-X-Wiederkonstrukteur, der bis zu seiner Rente im Schwermaschinenbau und in der Automobilindustrie als Konstrukteur gearbeitet hat. Seit Beginn der Corona-Pandemie – ihretwegen kam es zu Verzögerungen – tauschen sich Kielhorn, Schliep und andere Do-XAktivisten, organisiert im „Do-XFreundeskreis“, in Videokonferenzen aus. Damit das Riesenprojekt überhaupt umgesetzt werden kann, sind die Do-X-Fans auf die Unterstützung von Studentinnen und Studenten der Dualen Hochschulen Baden-Württemberg (DHBW) in Friedrichshafen, Mosbach sowie Lörrach und deren Betreuer angewiesen, schalten diese dazu. Deren Aufgabe: Mitarbeiten bei der Rückkehr der Do X im Maßstab 1:1 in Form eines Computermodells, also in CAD, direkt in 3 D, das ab April 2021 in nicht flugfähigem Zustand nachgebaut werden soll.
Eine Herausforderung für alle Beteiligten – sie betreiben auf Kielhorns Einladung hin „luftfahrthistorische Archäologie“, wie dieser es formuliert. Denn obwohl einstmals drei Do X-Maschinen gebaut wurden, ist keine einzige mehr erhalten – wie auch die Pläne vom Innern des Giganten verschollen sind. Nur auf Außenansichten und Hunderte von Fotos aus der Bauphase der Do X im Schweizer Altenrhein, die Peter Kielhorn im Staatsarchiv in St. Gallen aufgetrieben hat, können sich die Studenten bei ihrer Rekonstruktion stützen. Eine knifflige Aufgabe, wie ihr Betreuer Professor Gangolf Kohnen von der DHBW Mosbach sagt, denn die jungen Leute brauchen auch detektivischen Spürsinn. Ein Student zeigt auf ein u-förmiges Profil eines Do-X-Holmes, eines der wenigen erhaltenen Originalteile. „Das kann man auf dem Foto nicht erkennen.“Also wird getüftelt, entworfen, manchmal auch wieder verworfen.
„Die Do X ist und bleibt eine faszinierende Maschine“, hört man in den Studenten-Seminaren immer wieder. „Unglaublich, welche Technik, welches Wissen hinter diesem Flugschiff stecken“, sagen etwa die Studenten Peter Hepp und Christoph Legener. „Dieses Großflugschiff war eine herausragende technische Meisterleistung von Claude Dornier und seiner Mannschaft.“Die Motivation der Studenten ist enorm. „Ich möchte dazu beitragen, dass die Umsetzung gelingt“, begründet Student Marcel Koch sein Engagement für die Do X, für das er zwei Monate lang „exzessiv gearbeitet“, sich manche Nacht um die Ohren geschlagen hat. „Ich hatte keine Lust, die zehnte Studienarbeit zum Thema ,Lackieren und Galvanotechnik’ zu schreiben. Das wäre mir zu langweilig gewesen“, sagt etwa Maschinenbau-Student Mathias Schüller. „Mit dem Wiederaufbau der Do X arbeite ich an etwas mit, das Wert hat. Zudem lerne ich viel. Irgendwann kann ich auf ein Teil an der rekonstruierten Maschine zeigen und sagen: Das habe ich gemacht.“
Seit Projektbeginn bis August 2021 – dann wird das Flugschiff, das einst am Reißbrett mit Tusche geschaffen wurde, mit modernen Hilfsmitteln fast fertig rekonstruiert sein, es fehlen jetzt nur noch das Tragwerk und das Leitwerk – werden insgesamt 112 Studentinnen und Studenten 33 600 Stunden in das Projekt investiert haben. Wie viele Stunden er bisher für die Do X geleistet hat, kann Peter Kielhorn nicht sagen – mit dem Zählen hat er nie angefangen, da ihm klar war und ist, dass er ein Mammutprojekt zu seinem Herzensanliegen gemacht hat.
58 Spante, also tragende Bauteile, hat das Flugschiff. Peter Kielhorn und seine Mitstreiter wollen als Erstes Spant 44 in dem Werk in Ungarn anfertigen lassen, in dem der Dornier-Wal, ein Flugboot, sowie das Verkehrsflugzeug Dornier-Merkur in Originalgröße fürs Dornier Museum nachgebaut wurden. In Teile zerlegt soll das Bauteil dann am Bodensee ankommen und in einer gläsernen Werft von zwei ehemaligen Dornianern, die sich noch aufs Nieten verstehen, als Teil des Vorschiffs zusammengebaut werden. „Weil wir wollen, dass es mit dem Bau endlich losgeht, es eine Initialzündung gibt, versuchen wir das Geld für den Bau von Spant 44 in unseren Reihen zu sammeln“, sagt Peter Kielhorn. „Dafür rechnen wir mit circa 15 000 Euro.“Beispielsweise über Crowdfunding oder Patenschaften soll dann so viel Geld von nationalen und internationalen Geldgebern zusammenkommen, dass nach und nach die gesamte Maschine, oder zumindest ein großer Teil davon, wiederaufersteht.
Darüber hinaus haben Peter Kielhorn und seine Mitstreiter weitere Visionen: „Auch könnte man mit einer VR-Brille ,tiefer eintauchen‘, gar als Pilot das Flugzeug virtuell steuern oder als Passagier mitfliegen – vielleicht ein nächstes Studenten-Projekt“, sagt Professor Marc Nutzmann von der DHBW Friedrichshafen. Der Projektleiter und sein Do-X-Konstrukteur können heute schon die Do X virtuell in voller Größe ansehen, die Details begutachten und in ihr herumspazieren. Eine VR-Brille? Derlei gab es für die Original-Maschine natürlich nicht. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage war dem Unternehmen Do X nicht der erhoffte Erfolg beschieden. Trotzdem, betont Claude-Dornier Enkel Iren, erfahrener Pilot und Besitzer des Flugboots Do 24 ATT: „Für die Entwicklung der Flugverbindungen zwischen den Kontinenten ist die Bedeutung der Do X nicht hoch genug einzuschätzen.“
Wann soll die Do X fertig sein? Peter Kielhorn räumt sich und seinen Mitstreitern Zeit ein: Am 12. Juli 2029, zum 100. Geburtstag des Flugschiffs, das der Diplom-Ingenieur gerne als „Leuchtturm für das Dornier Museum“bezeichnet, möchte er es komplett in Originalgröße nachgebaut haben. Hans-Peter Rien, Direktor des Dornier Museums und Stiftungsvorstand, nimmt es mit Freude auf, dass Peter Kielhorn „technikinteressierte Menschen jeden Alters für eine große Idee begeistert“, wie es Rien formuliert. Er verfolgt das Projekt mit großem Interesse.
Mittelfristig hofft Peter Kielhorn, dass die „neue“Do X im Dornier Museum ihre Heimat findet, vielleicht sogar einen eigenen Hangar bekommt – gemeinsam mit der „Altenrhein“, einem der vor Kurzem wieder aufgetauchten Do-X-Original-Schleppschiffe, das gerade restauriert wird. Kielhorn ist überzeugt: „Die Do X und die ,Altenrhein’ zusammen – das hätte eine unglaubliche Strahlkraft. Auch wenn die Leute früher mehr Know-how als wir heute hatten, bin ich mir absolut sicher, dass wir sie wieder zum Leuchten bringen können.“