Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Pinselohren tun sich schwer
Das Comeback der Luchse kommt in Deutschland deutlich langsamer voran als das der Wölfe – Warum die Wildkatzen nicht so leicht Fuß fassen
Ein paar nächtliche Kilometer auf leisen Pfoten. Ein heimliches Bad in der Oder. Und schon hat die Bundesrepublik einen eleganten Bewohner mit Pinselohren mehr. Auch Deutschland profitiert von einem großen EU-Projekt, das den Luchs in den Westen Polens zurückbringen soll. Erst kürzlich ist ein mit einem Sendehalsband ausgerüstetes Tier von dort nach Brandenburg ausgewandert, ein weiteres tappte Ende 2020 in eine Fotofalle im Thüringer Schiefergebirge. Und auch in anderen Regionen verzeichnen Wissenschaftler Zuwanderer im gefleckten Fell. So tauchen in Baden-Württemberg immer wieder einzelne Männchen aus der Schweiz auf.
Kann der Luchs bei seiner Rückkehr nach Deutschland also eine ähnliche Erfolgsgeschichte schreiben, wie es der Wolf schon vorgemacht hat? Experten sind durchaus optimistisch, dass auch die großen Katzen hierzulande wieder eine Zukunft haben. Bis sie wieder in größeren Teilen des Landes Fuß gefasst haben, wird es allerdings deutlich länger dauern. Denn Wölfe sind einfach die besseren Kolonisten.
Deshalb ist ihnen ganz ohne menschliche Unterstützung ein beeindruckendes Comeback gelungen. Ein aus Polen zugewandertes Paar hat im Jahr 2000 in der Muskauer Heide in Sachsen den ersten deutschen Wolfsnachwuchs seit 150 Jahren zur Welt gebracht. Fünf Jahre später verzeichneten Wolfsforscher dann das zweite Rudel in der sächsischen Lausitz. „Wahrscheinlich hat das nur deshalb so lange gedauert, weil die Tiere zunächst keine Partner fanden, die nicht mit ihnen verwandt waren“, sagt Ilka Reinhardt vom LUPUS Institut für Wolfsmonitoring und -forschung im sächsischen Spreewitz.
Doch je mehr Wolfsfamilien sich in den folgenden Jahren etablierten, umso rascher breiteten sich die Tiere auch in neue Lebensräume aus. Zwischen 2000 und 2019 stieg die Zahl der Rudel und Paare im Schnitt um 28 Prozent pro Jahr. Nach den jüngsten Daten der „Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf“lebten in der Saison 2019/2020 in Deutschland 128 Rudel, 35 Wolfspaare und zehn Einzeltiere mit eigenem Territorium. Mehr als 20 Prozent der Fläche Deutschlands sind inzwischen Wolfsland.
Es ist allerdings auch nicht so, dass Wölfe jedes geeignete Gebiet sofort besetzen. Zwar hat ein Team um Stephanie Kramer-Schadt vom Berliner Leibniz-Institut für Zoound Wildtierforschung kürzlich festgestellt, dass ein Großteil Deutschlands als Lebensraum geeignet wäre. Doch bisher haben sich die Tiere von der Lausitz aus vor allem nach Norden und Osten ausgebreitet. „Das hat uns auch gewundert, weil gerade die Mittelgebirge weiter im Süden eigentlich perfekte Lebensräume wären“, sagt Ilka Reinhardt. Was die Tiere bisher an einem weiteren Vormarsch nach Süden und Westen gehindert hat, kann niemand genau sagen. Möglicherweise haben sie wenig Lust, durch die intensiv genutzte Agrarlandschaft der Börde in Sachsen-Anhalt zu wandern.
Doch je öfter sie im Norden und Osten auf besetzte Territorien stoßen, umso häufiger werden sie künftig wohl neue Richtungen einschlagen. Und dabei dürfte es ihnen nicht schwerfallen, auch weit von den bisherigen Hochburgen entfernte Gebiete zu erreichen. „Ein einzelner Rüde ist aus Niedersachsen schon bis nach Baden-Württemberg gekommen“, sagt Ilka Reinhardt.
Diese Wanderfreude, die sowohl Männchen als auch Weibchen bis zu 1000 Kilometer in die Ferne führen kann, war eine der großen Stärken der Wölfe bei der Wiederbesiedlung Deutschlands. Bei Luchsen dagegen gehen vor allem die Weibchen ungern weit weg von zu Hause. „Dazu kommt noch, dass Wölfe Teamplayer sind, die andere Familienmitglieder bei der Jungenaufzucht unterstützen“, erklärt Marco Heurich von der Universität Freiburg. Das führt dazu, dass diese Tiere mit vier bis sechs Welpen pro Wurf nicht nur viel Nachwuchs haben, sondern diesen oft auch erfolgreich durchbringen. Da können die alleinerziehenden Luchsweibchen bei Weitem nicht mithalten. Sie gebären normalerweise ohnehin nur zwei Junge pro Wurf, und von denen stirbt im Schnitt auch noch die Hälfte vor dem ersten Geburtstag. „Das alles führt dazu, dass sich Luchse mit der Wiederbesiedlung von Lebensräumen viel schwerer tun als Wölfe“, resümiert Marco Heurich.
Die drei Luchspopulationen, die es bisher in Deutschland gibt, gehen daher alle auf Wiederansiedlungsprojekte zurück. Seit den 1980er-Jahren streifen die Tiere wieder durch den Bayerischen Wald, zwischen 2000 und 2006 wurden insgesamt 24 Artgenossen im Harz freigelassen und seit 2015 brachte ein weiteres Projekt 20 Luchse zurück in den Pfälzer Wald. In allen drei Regionen werden regelmäßig Jungtiere geboren.
Die jüngsten Daten, die das Bundesamt für Naturschutz Ende Februar veröffentlicht hat, verzeichnen in der Saison 2019/2020 für ganz
Deutschland 125 bis 135 erwachsene Luchse, darunter 32 Weibchen mit Jungtieren. Das sind deutlich mehr als ein Jahr zuvor, als die Bestandsaufnahmen auf 84 bis 88 Tiere und 27 Mütter mit Nachwuchs kamen. Doch bisher ist es den gefleckten Katzen nicht gelungen, aus eigener Kraft neue Populationen zu gründen. Das liegt wohl auch daran, dass der Mensch ihnen die Rückkehr schwer gemacht hat. Und zwar nicht nur, weil Verkehrswege und Siedlungen ihre Wanderwege blockieren. Obwohl Luchse deutlich beliebter sind als Wölfe, werden auch sie mitunter illegal getötet. Da sie sich aber ohnehin so langsam vermehren, können sie diese Verluste nur schwer kompensieren.
„Im Bayerischen Wald gab es damit ein großes Problem“, sagt Marco Heurich. Obwohl die Tiere dort regelmäßig Nachwuchs bekamen, dümpelte die Population im Grenzgebiet zwischen Bayern, Tschechien und Österreich in den 2000er-Jahren bei 50 bis 80 Tieren vor sich hin. Den Ursachen dafür sind Marco Heurich und seine Kollegen mit einem Computermodell auf die Spur gekommen, in dem sie virtuelle Luchse durch die Region streifen lassen und den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Populationsentwicklung simulieren können. Demnach müssen damals jedes Jahr zehn bis 15 Tiere illegal getötet worden sein, um den Bestand am Größerwerden zu hindern. Inzwischen aber hat sich die Situation dank intensiver Öffentlichkeitsarbeit verbessert, die Population im Dreiländereck ist immerhin auf mehr als 130 Mitglieder gewachsen. Derweil haben sich Artgenossen aus dem Harz bereits nach Nordhessen aufgemacht, einzelne Männchen schafften es sogar bis nach Bayern und Brandenburg.
Doch wenn die Pinselohren in Deutschland eine Zukunft haben sollen, darf es nach Einschätzung von Fachleuten nicht bei ein paar kleinen, isolierten Populationen bleiben. Denn sonst könnte zu wenig genetische Vielfalt bei den Rückkehrern zu Gesundheitsproblemen führen. „Wir müssen die Bestände in ganz Mitteleuropa deshalb besser vernetzen“, sagt Marco Heurich. Die beste Möglichkeit dazu sieht er darin, bestehende Populationen so gut zu schützen, dass sie sich von selbst wieder ausbreiten. Es könne aber auch sinnvoll sein, den gefleckten Katzen durch weitere Wiederansiedlungen unter die Pfoten zu greifen.
So ist es den Modell-Luchsen im Computer trotz aller Zuwanderung aus der Schweiz nicht gelungen, einen neuen Bestand im Schwarzwald zu gründen. Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt den Berechnungen zufolge in den nächsten 50 Jahren bei höchstens 36 Prozent. Will man die Erfolgschancen auf 90 Prozent anheben, müsste man dort zusätzlich zwölf bis 30 Tiere ansiedeln. „Solche Projekte werden allerdings nur möglich sein, wenn man die Interessen von Landwirten, Jägern und Naturschützern unter einen Hut bringt“, betont Marco Heurich. Doch nach den bisherigen Erfahrungen ist er optimistisch, dass das klappen kann.