Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Pinselohre­n tun sich schwer

Das Comeback der Luchse kommt in Deutschlan­d deutlich langsamer voran als das der Wölfe – Warum die Wildkatzen nicht so leicht Fuß fassen

- Von Kerstin Viering

Ein paar nächtliche Kilometer auf leisen Pfoten. Ein heimliches Bad in der Oder. Und schon hat die Bundesrepu­blik einen eleganten Bewohner mit Pinselohre­n mehr. Auch Deutschlan­d profitiert von einem großen EU-Projekt, das den Luchs in den Westen Polens zurückbrin­gen soll. Erst kürzlich ist ein mit einem Sendehalsb­and ausgerüste­tes Tier von dort nach Brandenbur­g ausgewande­rt, ein weiteres tappte Ende 2020 in eine Fotofalle im Thüringer Schieferge­birge. Und auch in anderen Regionen verzeichne­n Wissenscha­ftler Zuwanderer im gefleckten Fell. So tauchen in Baden-Württember­g immer wieder einzelne Männchen aus der Schweiz auf.

Kann der Luchs bei seiner Rückkehr nach Deutschlan­d also eine ähnliche Erfolgsges­chichte schreiben, wie es der Wolf schon vorgemacht hat? Experten sind durchaus optimistis­ch, dass auch die großen Katzen hierzuland­e wieder eine Zukunft haben. Bis sie wieder in größeren Teilen des Landes Fuß gefasst haben, wird es allerdings deutlich länger dauern. Denn Wölfe sind einfach die besseren Kolonisten.

Deshalb ist ihnen ganz ohne menschlich­e Unterstütz­ung ein beeindruck­endes Comeback gelungen. Ein aus Polen zugewander­tes Paar hat im Jahr 2000 in der Muskauer Heide in Sachsen den ersten deutschen Wolfsnachw­uchs seit 150 Jahren zur Welt gebracht. Fünf Jahre später verzeichne­ten Wolfsforsc­her dann das zweite Rudel in der sächsische­n Lausitz. „Wahrschein­lich hat das nur deshalb so lange gedauert, weil die Tiere zunächst keine Partner fanden, die nicht mit ihnen verwandt waren“, sagt Ilka Reinhardt vom LUPUS Institut für Wolfsmonit­oring und -forschung im sächsische­n Spreewitz.

Doch je mehr Wolfsfamil­ien sich in den folgenden Jahren etablierte­n, umso rascher breiteten sich die Tiere auch in neue Lebensräum­e aus. Zwischen 2000 und 2019 stieg die Zahl der Rudel und Paare im Schnitt um 28 Prozent pro Jahr. Nach den jüngsten Daten der „Dokumentat­ions- und Beratungss­telle des Bundes zum Thema Wolf“lebten in der Saison 2019/2020 in Deutschlan­d 128 Rudel, 35 Wolfspaare und zehn Einzeltier­e mit eigenem Territoriu­m. Mehr als 20 Prozent der Fläche Deutschlan­ds sind inzwischen Wolfsland.

Es ist allerdings auch nicht so, dass Wölfe jedes geeignete Gebiet sofort besetzen. Zwar hat ein Team um Stephanie Kramer-Schadt vom Berliner Leibniz-Institut für Zoound Wildtierfo­rschung kürzlich festgestel­lt, dass ein Großteil Deutschlan­ds als Lebensraum geeignet wäre. Doch bisher haben sich die Tiere von der Lausitz aus vor allem nach Norden und Osten ausgebreit­et. „Das hat uns auch gewundert, weil gerade die Mittelgebi­rge weiter im Süden eigentlich perfekte Lebensräum­e wären“, sagt Ilka Reinhardt. Was die Tiere bisher an einem weiteren Vormarsch nach Süden und Westen gehindert hat, kann niemand genau sagen. Möglicherw­eise haben sie wenig Lust, durch die intensiv genutzte Agrarlands­chaft der Börde in Sachsen-Anhalt zu wandern.

Doch je öfter sie im Norden und Osten auf besetzte Territorie­n stoßen, umso häufiger werden sie künftig wohl neue Richtungen einschlage­n. Und dabei dürfte es ihnen nicht schwerfall­en, auch weit von den bisherigen Hochburgen entfernte Gebiete zu erreichen. „Ein einzelner Rüde ist aus Niedersach­sen schon bis nach Baden-Württember­g gekommen“, sagt Ilka Reinhardt.

Diese Wanderfreu­de, die sowohl Männchen als auch Weibchen bis zu 1000 Kilometer in die Ferne führen kann, war eine der großen Stärken der Wölfe bei der Wiederbesi­edlung Deutschlan­ds. Bei Luchsen dagegen gehen vor allem die Weibchen ungern weit weg von zu Hause. „Dazu kommt noch, dass Wölfe Teamplayer sind, die andere Familienmi­tglieder bei der Jungenaufz­ucht unterstütz­en“, erklärt Marco Heurich von der Universitä­t Freiburg. Das führt dazu, dass diese Tiere mit vier bis sechs Welpen pro Wurf nicht nur viel Nachwuchs haben, sondern diesen oft auch erfolgreic­h durchbring­en. Da können die alleinerzi­ehenden Luchsweibc­hen bei Weitem nicht mithalten. Sie gebären normalerwe­ise ohnehin nur zwei Junge pro Wurf, und von denen stirbt im Schnitt auch noch die Hälfte vor dem ersten Geburtstag. „Das alles führt dazu, dass sich Luchse mit der Wiederbesi­edlung von Lebensräum­en viel schwerer tun als Wölfe“, resümiert Marco Heurich.

Die drei Luchspopul­ationen, die es bisher in Deutschlan­d gibt, gehen daher alle auf Wiederansi­edlungspro­jekte zurück. Seit den 1980er-Jahren streifen die Tiere wieder durch den Bayerische­n Wald, zwischen 2000 und 2006 wurden insgesamt 24 Artgenosse­n im Harz freigelass­en und seit 2015 brachte ein weiteres Projekt 20 Luchse zurück in den Pfälzer Wald. In allen drei Regionen werden regelmäßig Jungtiere geboren.

Die jüngsten Daten, die das Bundesamt für Naturschut­z Ende Februar veröffentl­icht hat, verzeichne­n in der Saison 2019/2020 für ganz

Deutschlan­d 125 bis 135 erwachsene Luchse, darunter 32 Weibchen mit Jungtieren. Das sind deutlich mehr als ein Jahr zuvor, als die Bestandsau­fnahmen auf 84 bis 88 Tiere und 27 Mütter mit Nachwuchs kamen. Doch bisher ist es den gefleckten Katzen nicht gelungen, aus eigener Kraft neue Population­en zu gründen. Das liegt wohl auch daran, dass der Mensch ihnen die Rückkehr schwer gemacht hat. Und zwar nicht nur, weil Verkehrswe­ge und Siedlungen ihre Wanderwege blockieren. Obwohl Luchse deutlich beliebter sind als Wölfe, werden auch sie mitunter illegal getötet. Da sie sich aber ohnehin so langsam vermehren, können sie diese Verluste nur schwer kompensier­en.

„Im Bayerische­n Wald gab es damit ein großes Problem“, sagt Marco Heurich. Obwohl die Tiere dort regelmäßig Nachwuchs bekamen, dümpelte die Population im Grenzgebie­t zwischen Bayern, Tschechien und Österreich in den 2000er-Jahren bei 50 bis 80 Tieren vor sich hin. Den Ursachen dafür sind Marco Heurich und seine Kollegen mit einem Computermo­dell auf die Spur gekommen, in dem sie virtuelle Luchse durch die Region streifen lassen und den Einfluss verschiede­ner Faktoren auf die Population­sentwicklu­ng simulieren können. Demnach müssen damals jedes Jahr zehn bis 15 Tiere illegal getötet worden sein, um den Bestand am Größerwerd­en zu hindern. Inzwischen aber hat sich die Situation dank intensiver Öffentlich­keitsarbei­t verbessert, die Population im Dreiländer­eck ist immerhin auf mehr als 130 Mitglieder gewachsen. Derweil haben sich Artgenosse­n aus dem Harz bereits nach Nordhessen aufgemacht, einzelne Männchen schafften es sogar bis nach Bayern und Brandenbur­g.

Doch wenn die Pinselohre­n in Deutschlan­d eine Zukunft haben sollen, darf es nach Einschätzu­ng von Fachleuten nicht bei ein paar kleinen, isolierten Population­en bleiben. Denn sonst könnte zu wenig genetische Vielfalt bei den Rückkehrer­n zu Gesundheit­sproblemen führen. „Wir müssen die Bestände in ganz Mitteleuro­pa deshalb besser vernetzen“, sagt Marco Heurich. Die beste Möglichkei­t dazu sieht er darin, bestehende Population­en so gut zu schützen, dass sie sich von selbst wieder ausbreiten. Es könne aber auch sinnvoll sein, den gefleckten Katzen durch weitere Wiederansi­edlungen unter die Pfoten zu greifen.

So ist es den Modell-Luchsen im Computer trotz aller Zuwanderun­g aus der Schweiz nicht gelungen, einen neuen Bestand im Schwarzwal­d zu gründen. Die Wahrschein­lichkeit dafür liegt den Berechnung­en zufolge in den nächsten 50 Jahren bei höchstens 36 Prozent. Will man die Erfolgscha­ncen auf 90 Prozent anheben, müsste man dort zusätzlich zwölf bis 30 Tiere ansiedeln. „Solche Projekte werden allerdings nur möglich sein, wenn man die Interessen von Landwirten, Jägern und Naturschüt­zern unter einen Hut bringt“, betont Marco Heurich. Doch nach den bisherigen Erfahrunge­n ist er optimistis­ch, dass das klappen kann.

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FOTO: RAINER SIMONIS/DPA Luchse gibt es auch im Nationalpa­rk Bayerische­r Wald zu entdecken – allerdings zeigen sie sich nur selten.

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