Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Vorschulkinder fallen durchs Raster
Durch die Corona-Pandemie sind die Einschulungsuntersuchungen ausgesetzt
TUTTLINGEN - Über die vermeintlich geringeren Bildungschancen von Schülern durch die Corona-Pandemie ist schon viel diskutiert worden. Aber wie steht es eigentlich um die Kinder, die mit dem schulischen Lernen gerade begonnen haben oder bald werden: die Vorschulkinder im Kindergarten. Die Einschulungsuntersuchung (ESU) pausiert seit einem Jahr. Die Wiederaufnahme und damit das Erkennen von Fördermaßnahmen ist nicht in Sicht oder dem Zufall geschuldet.
„Wir sehen das Problem“, gesteht Bernd Mager. Dem Dezernenten für Soziales und Arbeit im Landratsamt Tuttlingen sind dennoch die Hände gebunden. „Wir werfen alles rein, um das Coronavirus zu bekämpfen“, sagt er. Auch die sieben Mitarbeiter, die sonst für die ESU verantwortlich waren, werden im Gesundheitsamt eingesetzt. Dort sollen die drei Ärzte und vier Mitarbeiter mithelfen, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Die ESU, da wagt Mager im Gespräch mit unserer Zeitung keine Ausflüchte, liegt danieder. Möglicherweise werde man im Sommer, fallzahlenabhängig, mit der eigentlich gesetzlichen Pflichtaufgabe wieder anfangen. Er sei mit dem Leiter des Gesundheitsamts, Siegfried Eichin, so verblieben, dass sich das ESU-Team „konzeptionell auf den Start der Einschulungsuntersuchung vorbereiten“könne, erklärt der Sozialdezernent. Diese soll dann vor allem für die Kinder angeboten werden, die nicht in einem Kindergarten betreut werden. Das sei aber nur eine geringe Anzahl.
Zur Einordnung der Bedeutung der ESU sagt Mager: Sollte das Kind gesund und unauffällig sein, dann habe es auch ohne ESU kein Problem in der Grundschule. Die Wirklichkeit, das haben die ESU-Berichte des Landkreises in den Jahren 2017 und 2018 gezeigt, ist aber eine andere. Vor allem in den Bereichen Motorik, Sprache und Mathematik lagen die Tuttlinger Ergebnisse unter dem Landesschnitt.
Von den gut 1000 Kindern eines Geburtsjahrgangs hatten 29,3 Prozent der Vierjährigen und 29,8 Prozent der Fünfjährigen eine auffällige Grobmotorik. 10,7 Prozent mehr Kinder als im Landeswert (51,7) offenbarten eine auffällige Stifthaltung. Eine deutliche Verbesserung gab es bei den Kindern mit visuomotorischer Störung (beispielsweise Hand-Augen-Koordination). Im Vergleich zum Tuttlinger Wert von 2016 (50,4) ging der Anteil der auffälligen Kinder um satte 40 Prozent zurück.
Nur fast jedes zweite Kind (49,2) konnte sich bei der Vorschuluntersuchung altersentsprechend äußern. Der landesweite Durchschnitt liegt aber bei 63,4 Prozent. Das Gleiche galt für das Nachsprechen von Sätzen, Zahlen und Kunstwörtern. Auch dort lag Tuttlingen im Viertel der schlechtesten Landkreise. Laut Bericht des Gesundheitsamtes ist der Anteil der Kinder, die einer intensiven Sprachförderung bedürfen, von 2016 (34,7 Prozent) auf 2018 (39,5) weiter angestiegen. Im mathematischen Bereich hatten 27,4 Prozent der Kinder ein
Problem mit der Mengenerfassung. Das waren 3,1 Prozent mehr als 2016 und landesweit der höchste Wert.
Dabei hatten die Kinder, die nach Auskunft der Eltern in Fragebögen zu zwei Dritteln aus Familien mit niedrigem oder mittlerem Sozialstatus stammten, keine organischen Probleme.
Sowohl beim Sehen (nur 24,8 Prozent hatten eine kontroll- oder abklärungsbedürftige Sehschärfe) als auch beim Hören – die 94,1 Prozent, die bei 20 Dezibel alle Töne hörten, stellen eine Spitzenwert im Land dar – lagen die Tuttlinger Kinder über dem Durchschnittswert von Baden-Würt
Viele Kinder im Kreis Tuttlingen haben Probleme mit den motorischen Fähigkeiten, der Sprache und mathematischer Mengenerfassung – zudem sind viele zu dick. Das haben die Einschulungsuntersuchungen ergeben (wir berichteten). Als Gegenmaßnahme will der Landkreis
einen Bewegungspass einführen.
Mitte dieses Jahres – abhängig von der Corona-Lage – steht eine Auftaktveranstaltung an, bei der die ersten Erzieherinnen für den Bewegungspass qualifiziert werden. Zudem ist eine Nutzungsvereinbarung mit der Stadt Stuttgart geplant, denn das Programm Bewegungspass wurde vom Amt für Sport und Bewegung der Stadt Stuttgart entwickelt.
Ziel des Bewegungspasses, der in einheitlicher Qualität in den Kitas umgesetzt werden soll, ist die Verbesserung der motorischen Fertigkeiten von Kindergartenkindern von zwei bis sieben Jahren. Das Landratsamt sieht darin auch einen Beitrag zur gesundheitlichen
temberg. In einer Vorlage für den Kreistag hatte die Verwaltung schon festgestellt, dass „nach wie vor ein hoher Förderbedarf“bestehe. Dabei sei wichtig, die Erziehungskompetenz von Eltern zu verbessern. „Eine Kindertageseinrichtung kann keine Reparaturanstalt Chancengleichheit. Ein Partner ist auch schon gefunden, die AOK. Sie wird das Programm während der vierjährigen Probelaufzeit bis Februar 2025 begleiten. Insgesamt kostet das Projekt 75 000 Euro, die AOK wird sich mit rund 25 000 Euro beteiligen. Bei Sylvia Broschk, Stabsstelle Gesundheit, laufen die Fäden zusammen. Sie plant auch die Einladungen von Zertifizierungsmaßnahmen für Kita-Erzieherinnen und macht die Elterninformationen. Nächste Schritte hin zum Tuttlinger Bewegungspass ist der Entwurf einer regionalen Version, ebenso wird ein Steuerungsgremium gebildet. Das besteht aus dem Kooperationspartner und aus Entscheidern des Gesundheits-, Erziehungs- und Sportsektors. Danach wird in Kitas Werbung für das Projekt gemacht. Interessierte Kitas sowie Sportvereine haben sich bereits beim Landratsamt gemeldet, sodass das Konzept des Bewegungspasses in diesen Kitas individuell vorgestellt wird. (iw)
sein, wenn Eltern zuhause die Entwicklung der Kinder nicht fortsetzen“, heißt es von Seiten des Landratsamts. Die Verantwortung liege bei den Eltern, der Landkreis habe trotz seines Engagements und diverser Angebote nur begrenzte Einflussmöglichkeiten.