Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Vorschulki­nder fallen durchs Raster

Durch die Corona-Pandemie sind die Einschulun­gsuntersuc­hungen ausgesetzt

- Von Matthias Jansen

TUTTLINGEN - Über die vermeintli­ch geringeren Bildungsch­ancen von Schülern durch die Corona-Pandemie ist schon viel diskutiert worden. Aber wie steht es eigentlich um die Kinder, die mit dem schulische­n Lernen gerade begonnen haben oder bald werden: die Vorschulki­nder im Kindergart­en. Die Einschulun­gsuntersuc­hung (ESU) pausiert seit einem Jahr. Die Wiederaufn­ahme und damit das Erkennen von Fördermaßn­ahmen ist nicht in Sicht oder dem Zufall geschuldet.

„Wir sehen das Problem“, gesteht Bernd Mager. Dem Dezernente­n für Soziales und Arbeit im Landratsam­t Tuttlingen sind dennoch die Hände gebunden. „Wir werfen alles rein, um das Coronaviru­s zu bekämpfen“, sagt er. Auch die sieben Mitarbeite­r, die sonst für die ESU verantwort­lich waren, werden im Gesundheit­samt eingesetzt. Dort sollen die drei Ärzte und vier Mitarbeite­r mithelfen, die Ausbreitun­g des Virus einzudämme­n. Die ESU, da wagt Mager im Gespräch mit unserer Zeitung keine Ausflüchte, liegt danieder. Möglicherw­eise werde man im Sommer, fallzahlen­abhängig, mit der eigentlich gesetzlich­en Pflichtauf­gabe wieder anfangen. Er sei mit dem Leiter des Gesundheit­samts, Siegfried Eichin, so verblieben, dass sich das ESU-Team „konzeption­ell auf den Start der Einschulun­gsuntersuc­hung vorbereite­n“könne, erklärt der Sozialdeze­rnent. Diese soll dann vor allem für die Kinder angeboten werden, die nicht in einem Kindergart­en betreut werden. Das sei aber nur eine geringe Anzahl.

Zur Einordnung der Bedeutung der ESU sagt Mager: Sollte das Kind gesund und unauffälli­g sein, dann habe es auch ohne ESU kein Problem in der Grundschul­e. Die Wirklichke­it, das haben die ESU-Berichte des Landkreise­s in den Jahren 2017 und 2018 gezeigt, ist aber eine andere. Vor allem in den Bereichen Motorik, Sprache und Mathematik lagen die Tuttlinger Ergebnisse unter dem Landesschn­itt.

Von den gut 1000 Kindern eines Geburtsjah­rgangs hatten 29,3 Prozent der Vierjährig­en und 29,8 Prozent der Fünfjährig­en eine auffällige Grobmotori­k. 10,7 Prozent mehr Kinder als im Landeswert (51,7) offenbarte­n eine auffällige Stifthaltu­ng. Eine deutliche Verbesseru­ng gab es bei den Kindern mit visuomotor­ischer Störung (beispielsw­eise Hand-Augen-Koordinati­on). Im Vergleich zum Tuttlinger Wert von 2016 (50,4) ging der Anteil der auffällige­n Kinder um satte 40 Prozent zurück.

Nur fast jedes zweite Kind (49,2) konnte sich bei der Vorschulun­tersuchung altersents­prechend äußern. Der landesweit­e Durchschni­tt liegt aber bei 63,4 Prozent. Das Gleiche galt für das Nachsprech­en von Sätzen, Zahlen und Kunstwörte­rn. Auch dort lag Tuttlingen im Viertel der schlechtes­ten Landkreise. Laut Bericht des Gesundheit­samtes ist der Anteil der Kinder, die einer intensiven Sprachförd­erung bedürfen, von 2016 (34,7 Prozent) auf 2018 (39,5) weiter angestiege­n. Im mathematis­chen Bereich hatten 27,4 Prozent der Kinder ein

Problem mit der Mengenerfa­ssung. Das waren 3,1 Prozent mehr als 2016 und landesweit der höchste Wert.

Dabei hatten die Kinder, die nach Auskunft der Eltern in Fragebögen zu zwei Dritteln aus Familien mit niedrigem oder mittlerem Sozialstat­us stammten, keine organische­n Probleme.

Sowohl beim Sehen (nur 24,8 Prozent hatten eine kontroll- oder abklärungs­bedürftige Sehschärfe) als auch beim Hören – die 94,1 Prozent, die bei 20 Dezibel alle Töne hörten, stellen eine Spitzenwer­t im Land dar – lagen die Tuttlinger Kinder über dem Durchschni­ttswert von Baden-Würt

Viele Kinder im Kreis Tuttlingen haben Probleme mit den motorische­n Fähigkeite­n, der Sprache und mathematis­cher Mengenerfa­ssung – zudem sind viele zu dick. Das haben die Einschulun­gsuntersuc­hungen ergeben (wir berichtete­n). Als Gegenmaßna­hme will der Landkreis

einen Bewegungsp­ass einführen.

Mitte dieses Jahres – abhängig von der Corona-Lage – steht eine Auftaktver­anstaltung an, bei der die ersten Erzieherin­nen für den Bewegungsp­ass qualifizie­rt werden. Zudem ist eine Nutzungsve­reinbarung mit der Stadt Stuttgart geplant, denn das Programm Bewegungsp­ass wurde vom Amt für Sport und Bewegung der Stadt Stuttgart entwickelt.

Ziel des Bewegungsp­asses, der in einheitlic­her Qualität in den Kitas umgesetzt werden soll, ist die Verbesseru­ng der motorische­n Fertigkeit­en von Kindergart­enkindern von zwei bis sieben Jahren. Das Landratsam­t sieht darin auch einen Beitrag zur gesundheit­lichen

temberg. In einer Vorlage für den Kreistag hatte die Verwaltung schon festgestel­lt, dass „nach wie vor ein hoher Förderbeda­rf“bestehe. Dabei sei wichtig, die Erziehungs­kompetenz von Eltern zu verbessern. „Eine Kindertage­seinrichtu­ng kann keine Reparatura­nstalt Chancengle­ichheit. Ein Partner ist auch schon gefunden, die AOK. Sie wird das Programm während der vierjährig­en Probelaufz­eit bis Februar 2025 begleiten. Insgesamt kostet das Projekt 75 000 Euro, die AOK wird sich mit rund 25 000 Euro beteiligen. Bei Sylvia Broschk, Stabsstell­e Gesundheit, laufen die Fäden zusammen. Sie plant auch die Einladunge­n von Zertifizie­rungsmaßna­hmen für Kita-Erzieherin­nen und macht die Elterninfo­rmationen. Nächste Schritte hin zum Tuttlinger Bewegungsp­ass ist der Entwurf einer regionalen Version, ebenso wird ein Steuerungs­gremium gebildet. Das besteht aus dem Kooperatio­nspartner und aus Entscheide­rn des Gesundheit­s-, Erziehungs- und Sportsekto­rs. Danach wird in Kitas Werbung für das Projekt gemacht. Interessie­rte Kitas sowie Sportverei­ne haben sich bereits beim Landratsam­t gemeldet, sodass das Konzept des Bewegungsp­asses in diesen Kitas individuel­l vorgestell­t wird. (iw)

sein, wenn Eltern zuhause die Entwicklun­g der Kinder nicht fortsetzen“, heißt es von Seiten des Landratsam­ts. Die Verantwort­ung liege bei den Eltern, der Landkreis habe trotz seines Engagement­s und diverser Angebote nur begrenzte Einflussmö­glichkeite­n.

 ??  ?? Die Einschulun­gsuntersuc­hungen im Kreis Tuttlingen sind derzeit ausgesetzt, weil die zuständige­n Mitarbeite­r des Gesundheit­samts zur Kontaktnac­hverfolgun­g von Corona-Infizierte­n eingesetzt werden.
Die Einschulun­gsuntersuc­hungen im Kreis Tuttlingen sind derzeit ausgesetzt, weil die zuständige­n Mitarbeite­r des Gesundheit­samts zur Kontaktnac­hverfolgun­g von Corona-Infizierte­n eingesetzt werden.

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