Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Hettingen verliert eines seiner ältesten Häuser
Welche Geschichte hinter dem Gebäude „Im Winkel 3“steckt und welcher Ehrenbürger der Stadt dort aufwuchs
HETTINGEN - Nach zähem Ringen mit dem Denkmalamt ist das Haus „Im Winkel 3“in Hettingen nun endgültig Geschichte: Ende März rückten die Abrissbagger an, inzwischen ist von dem Gebäude nichts mehr zu sehen. Damit gibt es genug Platz für die Seniorenwohnanlage, die das Unternehmen Benevit aus Mössingen an gleicher Stelle errichten will – aber die Stadt hat eines ihrer ältesten Häuser überhaupt verloren. Ein Haus mit bewegter Geschichte also, in dem unter anderem ein Ehrenbürger der Stadt aufgewachsen ist.
Der Kern des alten Gebäudes, der einen Wohnteil und eine Tenne mit Stall umfasste, war 1617 errichtet worden. „Als eines der typischen Bauernhäuser, wie es sie früher landauf, landab gab“, sagt der Hettinger Wilfried Liener, ausgewiesener Kenner der Stadtgeschichte. Er verweist auf die bescheidene Bauweise mit einem interessanten Giebel und den für frühere Zeiten typisch niedrigen Decken. Wegen der natürlichen Wärme habe sich das Schlafzimmer oft direkt über dem Stall befunden.
Zuletzt war von der ursprünglichen Bausubstanz allerdings nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Hobby-Historiker Botho Walldorf, der in den 1950er-Jahren in Gammertingen aufwuchs und heute in Wannweil (Landkreis Reutlingen) lebt, nennt vor allem den Fachwerkgiebel und die kleinen Bühnenfenster in Originalgröße an Ost- und Westseite. Auch einige wenige Bühnenräume mit Faschinengeflecht und Lehmbewurf hätten die Jahrhunderte bis zuletzt unverändert überdauert.
Immer wieder waren Teile des Hauses modernisiert und an aktuelle Gegebenheiten angepasst worden. Um 1700 beispielsweise, als die ursprünglichen Fachwerk-Außenwände des Erdgeschosses durch ein massives Bruch- und Haustein-Mauerwerk aus Kalkstein ersetzt wurden. Tenne und Stall wurden mit einem Anbau um etwa fünf Meter in Richtung Süden erweitert.
Um 1780 wurden jüngere Fachwerkwände im ersten Obergeschoss abgezimmert und die Fensteröffnungen an der nördlichen Traufseite neu gegliedert. 1926 wurden der zweite Dachstock, der Spitzboden und die Sparrenlage erneuert. 1966 kam zum südlichen Zwerch-Giebel ein neuer Saustall mit Pultdach hinzu.
Botho Walldorf selbst kennt das Haus in Hettingen seit seiner Jugend: Eine Mitschülerin wohnte gleich nebenan. Wie Walldorf berichtet, wurde damals zum Beispiel mehr Stauraum für Erntevorräte geschaffen. Zur gleichen Zeit wurde der Dachstuhl erneuert. Für einen weiteren Modernisierungsschub sorgte die Frau, die später die letzte Bewohnerin des geschichtsträchtigen Hauses sein sollte: Rosa Lieb, die 1958 ihren Mann Josef Schneider heiratete. Das Ehepaar vergrößerte beispielsweise das Küchenfenster, schaffte moderne Möbel an.
Der wohl bekannteste Bewohner des Hauses dürfte allerdings Professor Doktor Hermann Lieb (1897 – 1969) sein, Facharzt für Chirurgie und von 1943 bis 1963 Direktor des Carl-Fürst-Landeskrankenhauses in Sigmaringen. Er wurde 1955 zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. „Dass jemand in dieser Position aus unserer kleinen Ortschaft kommt, war damals eine kleine Sensation“, sagt der Hettinger Gerhard Hepp. Der heute 79-Jährige erlebte die Ernennung zum Ehrenbürger als Jugendlicher mit, kannte die Bewohner des Hauses „Im Winkel 3“persönlich.
Hepp erinnert auch noch an eine andere Geschichte, die mit dem Gebäude verbunden ist: an das Schicksal von Hermann Liebs Vater. Landwirt Josef Lieb, geboren 1861, verunglückte im Jahr 1914 tödlich als Fuhrmann im Feldhauser Tal. Noch heute erinnert daran eine Gedenksäule an der Kettenacker Straße.
Nach Rosa Schneiders Tod im Jahr 2010 blieb das historische Gebäude unbewohnt. Die Stadt Hettingen kaufte das Haus 2013, scheiterte aber mit sämtlichen Bemühungen, eine sinnvolle Nutzung dafür zu finden. Am Ende entschied sie sich für einen anderen Weg: Der Abbruch soll den Weg frei machen für die Pläne der Benevit-Gruppe. Diese will auf dem Gelände eine Wohnanlage für Senioren errichten. Vorgesehen sind vier Hausgemeinschaften mit insgesamt 57 stationären Pflegeplätzen. Hinzu kommen drei barrierefreie Mietwohnungen.
Bei aller Leidenschaft für historische Gebäude: Botho Walldorf zum Beispiel trägt den Abbruch des Hauses mit Fassung. Auch, weil in der Hettinger Kernstadt nach 1945 zahlreiche weitere Häuser abgerissen wurden – was das Stadtbild erheblich veränderte. Walldorfs Fazit: „Es gibt keine Argumente, das Ökonomiegebäude zu erhalten.“In den Freilichtmuseen der Region gebe es viele ähnliche Häuser zu bewundern.