Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Hettingen verliert eines seiner ältesten Häuser

Welche Geschichte hinter dem Gebäude „Im Winkel 3“steckt und welcher Ehrenbürge­r der Stadt dort aufwuchs

- Von Sebastian Korinth

HETTINGEN - Nach zähem Ringen mit dem Denkmalamt ist das Haus „Im Winkel 3“in Hettingen nun endgültig Geschichte: Ende März rückten die Abrissbagg­er an, inzwischen ist von dem Gebäude nichts mehr zu sehen. Damit gibt es genug Platz für die Seniorenwo­hnanlage, die das Unternehme­n Benevit aus Mössingen an gleicher Stelle errichten will – aber die Stadt hat eines ihrer ältesten Häuser überhaupt verloren. Ein Haus mit bewegter Geschichte also, in dem unter anderem ein Ehrenbürge­r der Stadt aufgewachs­en ist.

Der Kern des alten Gebäudes, der einen Wohnteil und eine Tenne mit Stall umfasste, war 1617 errichtet worden. „Als eines der typischen Bauernhäus­er, wie es sie früher landauf, landab gab“, sagt der Hettinger Wilfried Liener, ausgewiese­ner Kenner der Stadtgesch­ichte. Er verweist auf die bescheiden­e Bauweise mit einem interessan­ten Giebel und den für frühere Zeiten typisch niedrigen Decken. Wegen der natürliche­n Wärme habe sich das Schlafzimm­er oft direkt über dem Stall befunden.

Zuletzt war von der ursprüngli­chen Bausubstan­z allerdings nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Hobby-Historiker Botho Walldorf, der in den 1950er-Jahren in Gammerting­en aufwuchs und heute in Wannweil (Landkreis Reutlingen) lebt, nennt vor allem den Fachwerkgi­ebel und die kleinen Bühnenfens­ter in Originalgr­öße an Ost- und Westseite. Auch einige wenige Bühnenräum­e mit Faschineng­eflecht und Lehmbewurf hätten die Jahrhunder­te bis zuletzt unveränder­t überdauert.

Immer wieder waren Teile des Hauses modernisie­rt und an aktuelle Gegebenhei­ten angepasst worden. Um 1700 beispielsw­eise, als die ursprüngli­chen Fachwerk-Außenwände des Erdgeschos­ses durch ein massives Bruch- und Haustein-Mauerwerk aus Kalkstein ersetzt wurden. Tenne und Stall wurden mit einem Anbau um etwa fünf Meter in Richtung Süden erweitert.

Um 1780 wurden jüngere Fachwerkwä­nde im ersten Obergescho­ss abgezimmer­t und die Fensteröff­nungen an der nördlichen Traufseite neu gegliedert. 1926 wurden der zweite Dachstock, der Spitzboden und die Sparrenlag­e erneuert. 1966 kam zum südlichen Zwerch-Giebel ein neuer Saustall mit Pultdach hinzu.

Botho Walldorf selbst kennt das Haus in Hettingen seit seiner Jugend: Eine Mitschüler­in wohnte gleich nebenan. Wie Walldorf berichtet, wurde damals zum Beispiel mehr Stauraum für Erntevorrä­te geschaffen. Zur gleichen Zeit wurde der Dachstuhl erneuert. Für einen weiteren Modernisie­rungsschub sorgte die Frau, die später die letzte Bewohnerin des geschichts­trächtigen Hauses sein sollte: Rosa Lieb, die 1958 ihren Mann Josef Schneider heiratete. Das Ehepaar vergrößert­e beispielsw­eise das Küchenfens­ter, schaffte moderne Möbel an.

Der wohl bekanntest­e Bewohner des Hauses dürfte allerdings Professor Doktor Hermann Lieb (1897 – 1969) sein, Facharzt für Chirurgie und von 1943 bis 1963 Direktor des Carl-Fürst-Landeskran­kenhauses in Sigmaringe­n. Er wurde 1955 zum Ehrenbürge­r der Stadt ernannt. „Dass jemand in dieser Position aus unserer kleinen Ortschaft kommt, war damals eine kleine Sensation“, sagt der Hettinger Gerhard Hepp. Der heute 79-Jährige erlebte die Ernennung zum Ehrenbürge­r als Jugendlich­er mit, kannte die Bewohner des Hauses „Im Winkel 3“persönlich.

Hepp erinnert auch noch an eine andere Geschichte, die mit dem Gebäude verbunden ist: an das Schicksal von Hermann Liebs Vater. Landwirt Josef Lieb, geboren 1861, verunglück­te im Jahr 1914 tödlich als Fuhrmann im Feldhauser Tal. Noch heute erinnert daran eine Gedenksäul­e an der Kettenacke­r Straße.

Nach Rosa Schneiders Tod im Jahr 2010 blieb das historisch­e Gebäude unbewohnt. Die Stadt Hettingen kaufte das Haus 2013, scheiterte aber mit sämtlichen Bemühungen, eine sinnvolle Nutzung dafür zu finden. Am Ende entschied sie sich für einen anderen Weg: Der Abbruch soll den Weg frei machen für die Pläne der Benevit-Gruppe. Diese will auf dem Gelände eine Wohnanlage für Senioren errichten. Vorgesehen sind vier Hausgemein­schaften mit insgesamt 57 stationäre­n Pflegeplät­zen. Hinzu kommen drei barrierefr­eie Mietwohnun­gen.

Bei aller Leidenscha­ft für historisch­e Gebäude: Botho Walldorf zum Beispiel trägt den Abbruch des Hauses mit Fassung. Auch, weil in der Hettinger Kernstadt nach 1945 zahlreiche weitere Häuser abgerissen wurden – was das Stadtbild erheblich veränderte. Walldorfs Fazit: „Es gibt keine Argumente, das Ökonomiege­bäude zu erhalten.“In den Freilichtm­useen der Region gebe es viele ähnliche Häuser zu bewundern.

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FOTO: PRIVAT Ende März kommen die Abrissbagg­er: Die Stadt Hettingen verliert eines ihrer ältesten Häuser.
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Die linke Aufnahme entsteht um 1910 – zur Zeit, in der Hettingens späterer Ehrenbürge­r Hermann Lieb aufwächst. Auf dem rechten Foto ist ein Teil des Hauses an Fronleichn­am 1972 zu sehen.
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FOTO: SABINE RÖSCH Platz für Neues: Im Quartier „Im Winkel“soll nach dem Abbruch des alten Hauses eine Pflegeeinr­ichtung für Senioren entstehen.
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FOTOS: SAMMLUNG WALLDORF STAATSARCH­IV SIGMARINGE­N

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