Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Türöffner und Verführer

Hermann Hesses „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“gilt auch für die ersten Sätze berühmter Literatur – Eine kurze Leseprobe zum „Welttag der Bücher“

- Von Christoph Arens

BONN (KNA) - „Es war einmal …“Das ist der klassische erste Satz vieler Märchen. Dabei haben die Gebrüder Grimm nicht das Copyright auf diese Formel – sie findet sich schon im 16. Jahrhunder­t und auch in vielen anderen Sprachen.

Fest steht aber, dass erste Sätze eine große Bedeutung für Bücher haben – wie kurze Leseproben zum „Welttag des Buches“an diesem Freitag zeigen. „Erste Sätze sind vielleicht die zentralen Sätze eines jeden Romans, einer jeden Erzählung, denn von ihnen hängt ab, ob das Buch Gefallen findet, ob man weiterlies­t“, sagt der Berliner Literaturw­issenschaf­tler Peter-André Alt. Vor einem Jahr hat der derzeitige Präsident der Hochschulr­ektorenkon­ferenz ein spannendes Buch über „Erste

Sätze der Weltlitera­tur und was sie uns verraten“veröffentl­icht.

Manche Buchanfäng­e sind so prägnant, dass jeder sofort weiß, in welchem Werk man sich befindet. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“, so beginnt das JohannesEv­angelium. Und „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe“, so lautet der erste Satz der Bibel, des Buches der Bücher.

Ob Journalist­enschulen oder Schreibsch­ulen für angehende Autoren: Viele nehmen die Kunst des ersten Satzes sehr ernst. Der erste Eindruck zählt – das gilt für Roman und Reportage. Der erste Satz kann eine Atmosphäre aufbauen, ist ein Türöffner und Verführer.

Ein Beispiel? „Alle glückliche­n Familien gleichen einander, jede unglücklic­he Familie ist unglücklic­h auf ihre Art.“So beginnt Tolstois „Anna Karenina“. Peter-André Alt bezeichnet ihn als einen der großen klassische­n Romananfän­ge: Ein Satz, der sehr viel über Literatur aussagt, denn vom Glück kann man nicht so gut erzählen wie vom Unglück – weil es so vielfältig ist.

Erste Sätze können Spannung erzeugen: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanst­alt“, so eröffnet Günter Grass seine „Blechtromm­el“. Sofort fragt sich der Leser, ob er diesem Erzähler trauen kann. Auch im ersten Satz seiner „Mutmaßunge­n über Jakob“hat Uwe Johnson schon die ganze Geschichte versteckt: „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen“, heißt es. Jakob ist der Widerspens­tige und Unangepass­te, der den geradlinig­en Weg nicht mag. „Mit dem ersten Satz wird der Stein ins Rollen gebracht. Der erste Satz ist Verspreche­n, Duftmarke, Rätsel, Schlaglich­t – kurz: der Brühwürfel, mit dem die ganze folgende Suppe gekocht wird“, sagt Schriftste­ller Thomas Brussig.

Die großen Autoren der Antike, berichtet Peter-André Alt, hätten zu Beginn ihrer Erzählunge­n zunächst den Beistand der Götter gesucht. „Erzählen ist nichts, was man aus eigenem Antrieb tut, sondern man wird dazu inspiriert durch höhere Mächte.“Auch später, im 16. und 17. Jahrhunder­t, mussten sich die Erzähler für ihre Romane rechtferti­gen, weil sie ja erfundene (Lügen-)Geschichte­n waren. Erst nach und nach gewann die Literatur Selbstbewu­sstsein und Gestaltung­sspielraum.

Als einen Großmeiste­r des ersten Satzes bezeichnet Peter-André Alt Franz Kafka. „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“So beginnt Kafkas „Prozess“. Es gibt keine Sicherheit­en: Es gibt eine Verleumdun­g, es gibt eine Verhaftung, aber keine Tat und keinen Ankläger. Ebenfalls mit einem Alptraum beginnt Kafkas Roman „Die Verwandlun­g“: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“

Mit ersten Sätzen tun sich viele Autoren schwer. Von Kafka etwa wird berichtet, dass er dem riesigen Druck ausgewiche­n ist und den ersten Satz erst spät festgelegt hat. Literatur ist oft mehr Arbeit und Montage als genialer Einfall. Außerdem: „Der Romananfan­g ist wichtig, ohne Zweifel, sollte allerdings auch nicht überbewert­et werden“, rät PeterAndré Alt zur Gelassenhe­it. Es nützt nichts, wenn der erste Satz ausgezeich­net ist, der Rest des Romans aber geringe Qualität hat. Auch Bücher mit einem eher nüchternen oder sogar ungelenken ersten Satz können gut sein. Und vielleicht reißt ja der letzte Satz noch vieles heraus. Etwa: „ ... und wenn sie nicht gestorben sind …“

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FOTO: IMAGO IMAGES

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