Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Zahl antisemiti­scher Gewalttate­n steigt um ein Viertel

Studie zeigt Zusammenha­ng zwischen judenfeind­licher Einstellun­g und Verschwöru­ngsmythen

- Von Anke Kumbier

STUTTGART - Auf den ersten Blick scheint es eine positive Nachricht zu sein: Die Zustimmung zu klassische­n judenfeind­liche Aussagen nimmt in Baden-Württember­g weiter ab. Das zeigt eine Studie der Universitä­t Leipzig. Die Kehrseite: Die Ausdrucksf­ormen von Antisemiti­smus verschiebe­n sich und treten teilweise weniger offen auf. Außerdem stieg die Zahl der antisemiti­schen Gewalttate­n von 2019 auf 2020 in Baden-Württember­g um 25 Prozent und bei der Meldestell­e für Antisemiti­smus in Baden-Württember­g sind im ersten Quartal 2021 so viele Meldungen eingegange­n (224) wie im gesamten vergangene­n Jahr zusammenge­nommen.

Am Donnerstag haben Professor Oliver Decker vom Kompetenzz­entrum für Rechtsextr­emismus- und Demokratie­forschung der Universitä­t Leipzig und seine Mitarbeite­rin Carolin Ziemer die Studie „Antisemiti­smus in Zeiten von Covid-19“vorgestell­t, in der sie den Fokus auf Baden-Württember­g legen. Michael Blume, Landesbeau­ftragter gegen Antisemiti­smus, hat eine solche Auswertung bereits zum zweiten Mal bei der Universitä­t Leipzig in Auftrag gegeben und hofft auf Fortsetzun­g.

Decker und sein Team haben im vergangene­n Jahr von Anfang Mai bis Mitte Juni 2503 Menschen in Deutschlan­d, davon 310 aus BadenWürtt­emberg, zu ihren Einstellun­gen befragt. Die Zustimmung zu antisemtis­chen Aussagen wie „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß“ist gesunken. Trotzdem stimmen in Baden-Württember­g rund neun Prozent dieser Aussage vorbehaltl­os zu und knapp 30 Prozent lehnen sie nur teilweise ab oder stimmen sogar teilweise zu.

Als Grund für den Rückgang solcher „klassische­n“judenfeind­lichen Aussagen sehen Decker und Blume eine soziale Norm: Gesellscha­ftlich sind solche Aussagen mittlerwei­le geächtet. Stattdesen äußert sich Antisemiti­smus versteckte­r, beispielsw­eise im „Schuldabwe­hrantisemi­tismus“: Zwei Drittel der Befragten in Baden-Württember­g stehen hinter der Aussage, dass man sich lieber gegenwärti­gen Problemen widmen sollte, als Ereignisse­n, die mehr als 70 Jahre zurücklieg­en – also dem Holocaust, der systematis­chen Ermordung von rund sechs Millionen Juden durch die Nationalso­zialisten.

Eine dritte Form macht sich im israelbezo­genen Antisemiti­smus bemerkbar. Lediglich knapp ein Drittel lehnt einen Vergleich zwischen Israels Palästina-Politik und der NS-Politik komplett ab. Die Gruppe derjenigen, die dieser Aussagen „latent“, also noch teilweise zustimmt, liegt bei 40 Prozent. „Ich erlebe Israel-Antisemiti­smus als Ausweichan­tisemitism­us“, berichtet Michael Blume.

Dieser „latent antisemtis­che“Teil in der Bevölkerun­g bereitet Studienlei­ter Decker Sorge. Er bezeichnet sie als „dunkle Ressource“, die häufig in Krisenzeit­en aktiviert wird. Die Studie hat auch die Anfälligke­it der Befragten für Verschwöru­ngsmythen untersucht und stellt einen Zusammenha­ng zwischen diesen und Antisemiti­smus fest. „Krisen wie die Corona-Pandemie gelten als Brandbesch­leuniger für menschlich­e Ressentime­nts“, sagt Carolin Ziemer. Sie verweist auf antisemiti­sche Vorfälle bei „Querdenker“-Demonstrat­ionen, bei denen Teilnehmen­de beispielsw­eise einen Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“getragen haben.

Susanne Jakubowski von der Israelitis­chen Religionsg­emeinschaf­t Württember­g zeigt sich dankbar für die Studie. Sie helfe zu verstehen, wie sich Antisemiti­smus ausbreite. Für Michael Blume zeigt die Studie vor allem, dass Antisemiti­smus nicht unbesiegba­r ist. Gleichzeit­ig sehe er, dass sich Menschen über das Netz bis zur Gewaltbere­itschaft radikalisi­eren. Als einen Schwerpunk­t seiner Arbeit will er in den nächsten Jahren den israelbezo­genen Antisemiti­smus angehen. Sein Wunsch: Ein Begegnungs­werk, vor allem für junge Leute aus Baden-Württember­g und Israel.

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FOTO: CHRISTOPHE GATEAU/DPA

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