Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Kinder im Zentrum der Pandemie

Was Wissenscha­ftler über junge Corona-Patienten wissen

- Von Hajo Zenker

BERLIN - Über die Rolle von Kindern und Jugendlich­en in der Pandemie ist viel gestritten worden. Auch, weil daran die Frage hängt, inwieweit man Schulen und Kitas offen halten und damit Bildung und Betreuung sichern kann. Oder ob man Bildungsei­nrichtunge­n quasi als Umschlagss­tationen für das Virus ansehen muss, die die Pandemie befeuern.

Mittlerwei­le sieht man klarer. Fakt ist: Kinder werden nur sehr selten sehr krank. Aber im Unterschie­d zu 2020 stecken sie sich jetzt häufig an. Und gefährden damit die eigene Familie – denn Eltern sind häufig nicht so alt und nicht so vorerkrank­t, um bereits geimpft zu sein. Der Virologe Martin Stürmer von der Universitä­t Frankfurt/Main warnt, dass infizierte Kinder das Virus an „gefährdete­re Gruppen wie Eltern oder Großeltern“weitergebe­n.

Tatsächlic­h liegen auf den Intensivst­ationen immer mehr Menschen im besten Elternalte­r. Auch die Lehrkräfte sind längst noch nicht alle immunisier­t. Laut Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin, sehe man „sehr viele 40- bis 50-Jährige mit sehr schweren Corona-Verläufen auf den Intensivst­ationen“. Bei den unter 50-Jährigen sterbe jeder fünfte Covid-Intensivpa­tient. Bei den Älteren sei es jeder Zweite.

Für den SPD-Gesundheit­spolitiker Karl Lauterbach verlieren deshalb „viele Kinder ihre Eltern. Das ist eine Tragödie.“Kinder und Jugendlich­e würden „zum Zentrum der Pandemie“. Noch nie sei bei ihnen die Inzidenz, also die Zahl der Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche, so hoch gewesen. Tatsächlic­h schreibt das Robert-KochInstit­ut (RKI), dass es einen besonders starken Anstieg in jüngeren Altersgrup­pen gebe. Einmal in der Woche veröffentl­icht das RKI die Altersinzi­denzen, zuletzt am Dienstag. Bei einer Gesamtinzi­denz von 168 betrug die Inzidenz bei den 5- bis 9-Jährigen 224, bei den 10- bis 14-Jährigen 234 und bei den 15- bis 19-Jährigen sogar 260. Viel niedriger liegt der Wert bei den in weiten Teilen geimpften 80- bis 84-Jährigen mit 61.

Ein Grund könnte die englische Mutante B.1.1.7 sein, die in Deutschlan­d

für 90 Prozent der Neuansteck­ungen verantwort­lich ist. Laut einer britischen Analyse hat B.1.1.7 dafür gesorgt, dass Kinder und Jugendlich­e jetzt einen größeren Anteil an den Gesamtfäll­en hätten als zuvor, so Sarah Rasmussen von der Universitä­t Cambridge.

Allerdings wird immer auch wieder darauf hingewiese­n, dass das Testen, etwa zur Aufrechter­haltung des Schulbetri­ebs, die Zahl der nachgewies­enen Infektione­n nach oben treibt. Die Gesellscha­ft für Kinderund Jugendmedi­zin etwa betont, dass die Testhäufig­keit bei Kindern im Vergleich zu Erwachsene­n „erheblich zugenommen hat“.

Für die Kinder selbst jedenfalls halten sich die gesundheit­lichen Konsequenz­en zumeist in Grenzen. So weist die Gesellscha­ft für Pädiatrisc­he Infektiolo­gie darauf hin, dass von 14 Millionen Kindern und Jugendlich­en seit Beginn der Pandemie etwas mehr als 1200 mit einer Corona-Infektion im Krankenhau­s behandelt werden mussten, was 0,01 Prozent entspreche. Die Gesellscha­ft zählt vier Tote, was 0,00002 Prozent aller Kinder und Jugendlich­en bedeute. Die KinderInfe­ktiologen meinen denn auch, jeder einzelne Fall eines schwer erkrankten oder verstorben­en Kindes „ist ein Fall zu viel und ein unerträgli­ches Einzelschi­cksal für Kind und Familie“. Die Fallzahlen aber sollten „Eltern übergroße Sorgen vor einem schweren Krankheits­verlauf bei ihren Kindern nehmen“.

Schwere Verläufe gibt es nichtsdest­otrotz. Eine Folgekrank­heit trägt die Abkürzung PIMS. Das ist eine Multi-Entzündung­serkrankun­g, die mit hohem Fieber, Ausschlag, Durchfall und Übelkeit verbunden ist. PIMS tritt vier bis sechs Wochen nach der Infektion auf. Bisher sind 281 Fälle bekannt, betroffen sind in zwei von drei Fällen Jungen. Viele davon mussten auf die Intensivst­ation, die meisten konnten gesund entlassen werden. An die sieben Prozent aber haben Folgeschäd­en. Tödliche Verläufe gibt es bisher nicht.

Am sichersten verhindern könnte man die Weitergabe des Virus an Erwachsene durch Kinder und seltene Erkrankung­en wie PIMS natürlich durch eine Impfung. Bisher sind die Vakzine jedoch erst für Menschen ab 18 Jahre zugelassen, bei Biontech ab 16 Jahren. Nun aber kündigt Biontech-Chef Ugur Sahin an, dass es schon im Juni erste Impfungen für Kinder von zwölf bis 15 Jahren geben könne. Ab Herbst dürften auch Jüngere immunisier­t werden. Moderna-Chef Dan Staner wiederum rechnet damit, dass sein Impfstoff für Teenager im September zugelassen werden kann.

Nötig wäre das wohl noch aus einem anderen Grund: Wahrschein­lich braucht man geimpfte Kinder auch wegen der Herdenimmu­nität. Während man früher davon ausging, dass es ausreicht, dass 60 Prozent der Bevölkerun­g geimpft oder von Corona genesen sind, um das Virus auszubrems­en, spricht das RKI jetzt davon, dass wegen B.1.1.7 vermutlich 70 bis 80 Prozent nötig sind.

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FOTO: KAMARYT MICHAL/DPA Kinder infizieren sich häufiger mit dem Coronaviru­s als in der ersten Welle der Pandemie.

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