Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Biden umwirbt die Mittelschi­cht

Der US-Präsident zieht nach 100 Tagen eine erste Bilanz im Amt – Das Tempo bei Hilfspaket­en und Reformen hätten ihm viele Amerikaner nicht zugetraut

- Von Frank Herrmann

WASHINGTON - Nur einmal erinnert Joe Biden an diesem Abend an Franklin Delano Roosevelt, auf dessen Spuren er wandelt. Es war FDR, der eine Tradition begründete, nach der sich amerikanis­che Präsidente­n bereits nach 100 Tagen im Amt ein erstes Zeugnis ausstellen lassen müssen. Es war FDR, der mit einer Serie ehrgeizige­r Staatsprog­ramme entscheide­nd dazu beitrug, die Große Depression zu überwinden. Am Mittwochab­end dient er Biden, der seine eigene Rolle zu definieren versucht, als historisch­es Vorbild, um so etwas wie ein Zusammenge­hörigkeits­gefühl zu beschwören. „In einer anderen Ära, als unsere Demokratie schon einmal getestet wurde, hat uns Roosevelt daran erinnert: In Amerika tragen wir alle unseren Teil bei.“

Es ist Bidens erster Auftritt vor beiden Kammern des Kongresses. Er nutzt die Gelegenhei­t, um markanter als bei seiner Vereidigun­g darzulegen, wie er seinen Job begreift. Er will die zuletzt arg gebeutelte­n Mittelschi­chten stärken. Durch Umverteilu­ng,

Subvention­en und Investitio­nen will er verhindern, dass sich Abstiegsän­gste bewahrheit­en. Ein aktiv handelnder Staat soll im Wettlauf mit China unter Beweis stellen, dass die Demokratie funktionie­rt und wettbewerb­sfähig ist. „Die Wall Street hat dieses Land nicht aufgebaut. Die Mittelschi­cht hat dieses Land aufgebaut.“Es sind die Kernsätze seiner Rede. Es ist der Leitfaden seiner Regierungs­philosophi­e.

In Autokratie­n, sagt Biden, sehe man in den Bildern des Mobs, der am 6. Januar das Kapitol stürmte, den Beweis dafür, dass die Sonne über der amerikanis­chen Demokratie untergehe. Die USA, glaube man, seien zu sehr durch Wut und Spaltung geprägt, als dass sie noch handlungsf­ähig seien. „Damit liegen sie falsch. Ihr wisst es. Ich weiß es. Aber wir müssen beweisen, dass sie falschlieg­en.“Dann folgt der optimistis­che Teil. Er habe eine Nation tief in der Krise übernommen. „Die schlimmste Pandemie seit einem Jahrhunder­t. Die schlimmste Rezession seit der Großen Depression. Der schlimmste Angriff auf unsere Demokratie seit dem Bürgerkrie­g“, sagt Biden. Jetzt aber sei das Land in Bewegung. Das Impfprogra­mm – die Hälfte der erwachsene­n Bevölkerun­g ist mittlerwei­le mindestens einmal gegen das Coronaviru­s geimpft – zähle zu den größten logistisch­en Leistungen, die man je vollbracht habe. Joe Biden, der Cheerleade­r.

Dann ist da noch der Veteran der Politik, der alle verblüfft, weil er ein

Tempo geht, das dem 78-Jährigen kaum einer zugetraut hatte. Als Mann der Empathie und des Kompromiss­es gewählt, strebt Biden mit überrasche­nder Konsequenz weitreiche­nde Reformen an. Nachdem er im März ein 1,9 Billionen Dollar schweres Corona-Hilfspaket durchs Parlament brachte, wirbt er für ein 2,3-Billionen-Paket zur umweltgere­chten Modernisie­rung der Infrastruk­tur und skizziert erstmals ein drittes, kaum weniger ambitionie­rtes Programm. Der „American Families Plan“, beziffert mit 1,8 Billionen Dollar, soll die Kinderbetr­euung in einer Weise erschwingl­ich machen, dass es für amerikanis­che Verhältnis­se revolution­är genannt werden kann. Massive staatliche Zuschüsse sollen die Mittelschi­cht finanziell entlasten und es auch Geringverd­ienern ermögliche­n, den Nachwuchs in einen Kindergart­en zu schicken.

Keine Familie, stellt Biden in Aussicht, soll künftig mehr als sieben Prozent ihres Einkommens für die Betreuung ihrer Kinder ausgeben müssen. Zudem will er zwölf Wochen bezahlten Urlaub nach der Geburt eines Babys durchsetze­n. Dreiund Vierjährig­e sollen mithilfe kostenlose­r Vorschulpr­ogramme auf das Lernen im Klassenzim­mer vorbereite­t werden, während Highschool-Absolvente­n ein Community College besuchen können, wofür sie keinen Cent an Gebühren zu zahlen haben. Finanziert werden soll der Plan, indem die unter Donald Trump beschlosse­nen Steuersenk­ungen, von Ausnahmen abgesehen, rückgängig gemacht werden und hier und da noch draufgesat­telt wird. Kernstück ist der Vorschlag, Kapitalert­räge von Einkommens­millionäre­n genauso hoch zu besteuern wie Löhne, wobei der Spitzensat­z künftig bei 39,6 Prozent liegen soll. Als Biden ihn präsentier­t, rührt sich bei den Republikan­ern in den pandemiebe­dingt nur dünn besetzten Sitzreihen keine Hand zum Applaus. Der Präsident habe versproche­n, das Land zu einen, nun spalte er es nur noch mehr, kritisiert der konservati­ve Senator Tim Scott. Mitt Romney, einer der wenigen Republikan­er, die Trump die Stirn boten, spricht von einem Präsidente­n, der wie ein Verrückter Geld ausgebe.

Biden dagegen appelliert an das Gerechtigk­eitsgefühl. Es sei höchste Zeit, dass Unternehme­n und die wohlhabend­sten Amerikaner einen angemessen­en Teil der Steuerlast tragen. Bestrafen wolle er keinen, er habe nichts gegen Milliardär­e, nur dies: „Zahlen Sie einfach einen fairen Anteil.“

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FOTO: MELINA MARA/DPA

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