Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Weniger Einzelhändler, mehr Pflegeexperten
Wie sich die Corona-Krise langfristig auf Berufe und Qualifikationen auswirken könnte
BERLIN - Wenn die Corona-Krise abebbt, die Impfungen zulegen und das Leben allmählich in seine normalen Bahnen zurückkehrt, macht wohl die Wirtschaft einen Sprung. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) verkündete am Dienstag bessere Wachstumsaussichten für dieses Jahr, und die Job-Prognose der Bundesagentur für Arbeit hellt sich ebenfalls auf. Was bedeutet das allerdings konkret für einzelne Berufe und Qualifikationen in den kommenden Jahren?
Wie könnte sich die Zahl der Arbeitsplätze entwickeln?
Zwischen 2025 und 2040 fehlen möglicherweise rund 200 000 Stellen pro Jahr, berechnete das Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur kürzlich. Diese Prognose ergibt sich im Vergleich zu einer früher geschätzten Entwicklung ohne größere CoronaAuswirkungen. Da die Zahl der hiesigen Erwerbstätigen in den kommenden zwei Jahrzehnten bei durchschnittlich 44 Millionen liegt, ist das Minus jedoch nicht dramatisch. Es bewegt sich in der Größenordnung von 0,5 Prozent der Arbeitsplätze. Ein wichtiger Grund besteht darin, dass sich die Pandemie insgesamt etwas dämpfend auf die Wirtschaft und das Bruttoinlandsprodukt auswirken könnte.
In welchen Berufen werden die Aussichten schlechter?
Etwas weniger Beschäftigung könnte es unter anderem in diesen Branchen geben: Einzelhandel, Gastronomie, Hotels, Tourismus, Reinigungsgewerbe und bei manchen Dienstleistern, die solchen Unternehmen zuarbeiten. Die Jobverluste im Einzelhandel im Vergleich zur bisherigen Prognose schätzt das IAB auf etwa 38 000 im Jahr 2040, im Reinigungsgewerbe auf knapp 30 000 und in der Gastronomie auf 25 000. Wohlgemerkt: Trotzdem wird es weiterhin sehr viele Arbeitsplätze in den einzelnen Bereichen geben. Allerdings könnte es etwas schwerer werden, dort eine Stelle zu finden.
Was sind die Gründe?
Seit März 2020 arbeiten deutlich mehr Beschäftigte ganz oder zeitweise zu Hause. Zur Koordination mit ihren Kolleginnen und Kollegen organisieren sie Videokonferenzen.
Daraus ergibt sich vielleicht auch langfristig ein geringerer Bedarf an Dienstreisen, also an Hotelübernachtungen und Restaurantbesuchen. Die geringere Nachfrage hat Folgen: Reinigungsdienste werden ebenfalls weniger gebraucht. Weil zudem viele Geschäfte geschlossen waren oder sind, bestellen die Leute mehr Produkte im Onlinehandel. Der Einzelhandel braucht weniger Arbeitskräfte, der rationellere Onlinehandel macht die Verluste aber nicht wett.
Wo gibt es mehr Jobs?
Als Beispiele für profitierende Branchen nennt das IAB unter anderem häusliche Dienste, Sozialwesen, öffentliche Verwaltung sowie Firmen, die irgendetwas mit Digitalisierung zu tun haben. Weil die Pandemie Defizite in der Gesundheitsversorgung gezeigt hat, könnten in der medizinischen Forschung, Entwicklung, Produktion und Betreuung mehr Stellen entstehen. Auch die öffentlichen Gesundheitsämter brauchen mehr Leute. Außerdem ist die Digitalisierung des Arbeitslebens nicht zu bewältigen ohne Expertinnen und Experten, die Konferenzsoftware schreiben, die dafür nötigen Computer installieren und das Internet ausbauen.
Ist das alles neu?
Nein. „Teilweise wirkt die CoronaKrise als Katalysator bereits bestehender Trends“, sagt Simon Junker vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Die Digitalisierung und die Verlagerung von Einkäufen in den Onlinehandel sind ohnehin im Gange, Corona beschleunigt sie. Weil die geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter kommen, steigt der Bedarf an häuslichen Diensten und Pflegeleistungen. Die Erfahrung der Pandemie ist ein weiterer Grund, die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Auf zusätzliche Veränderungen – neben der Klimapolitik – muss sich möglicherweise auch die in Deutschland stark vertretene Autoindustrie einstellen: Wenn weniger Leute täglich zur Arbeit fahren, brauchen sie vielleicht keinen eigenen Wagen mehr. Und die Luftfahrtindustrie muss sich eventuell daran gewöhnen, dass weniger Firmenvorstände mal eben von München nach Hamburg oder von Frankfurt nach New York fliegen. Manchmal wird das auch künftig nötig sein, aber nicht mehr so oft wie früher.