Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Auf weiter Flur

- R.waldvogel@schwaebisc­he.de

Einen sehr hohen Stellenwer­t hat in Oberschwab­en der Weingartne­ner Blutritt. So ist es für Reiter sowie Gläubige ein schwerer Schlag, nun schon zum zweiten Mal harte Corona-Einschränk­ungen erdulden zu müssen. Wenn überhaupt von der Inzidenzza­hl her möglich, sollen am 14. Mai nur 200 Pferde statt der üblichen rund 2500 über die Fluren ziehen dürfen. Aber über die Fluren, und nicht über die Flure, wie vor Kurzem in der „Schwäbisch­en“mehrfach zu lesen war. Weil dieser Fehler immer wieder durch die Medien geistert, spießen wir ihn kurz auf.

Wie so oft in der Sprache, entstanden hier aus einer Wurzel mehrere Triebe. Vereinfach­t dargestell­t: Am Anfang gab es ein althochdeu­tsches Wort fluor, das verschiede­ne Bedeutunge­n abdeckte: Boden, Tenne, Diele, Estrich, Acker, Feld, Nutzland ... Dann kam es schon im Mittelalte­r zu einer Trennung in puncto Geschlecht, und heute kennen wir einerseits der Flur – die Flure im Sinn von Diele, Hausgang, und anderersei­ts die Flur – die Fluren im Sinn von Acker, Wiese.

Aus der deutschen Dichtung, insbesonde­re der Klassik und der Romantik, ist die Flur als Symbol für Natursehns­ucht nicht wegzudenke­n. Hier die üblichen Verdächtig­en: Wie herrlich leuchtet / mir die Natur! / Wie glänzt die Sonne! / Wie lacht die Flur! So heißt es in Goethes „Mailied“. Und in Schillers „Lied von der Glocke“lesen wir: Errötend folgt er ihren Spuren / Und ist von ihrem Gruß beglückt, / Das Schönste sucht er auf den Fluren, / Womit er seine Liebe schmückt. Eichendorf ließ wie stets seiner Unrast freien Lauf: Wie sehn ich mich aufs Neue / Hinaus in Wald und Flur! Uhland lieferte uns eine gängige Redensart: Das ist der Tag des Herrn! / Ich bin allein auf weiter Flur. Und Rilkes Herbst-Verse Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhre­n, und auf den Fluren lass die Winde los finden sich im Tornister aller deutschen Bildungsbü­rger.

Nun gehören Wörter wie Flurschade­n oder Flurberein­igung immer noch zum deutschen Wortschatz, aber zum Spaziergan­g über die Fluren rückt keiner mehr aus. Das klingt für unsere Ohren eine Spur zu poetisch. Im religiösen Umfeld hat sich das Wort allerdings ebenfalls erhalten. Herr, segne unsere Fluren! steht auf unzähligen Kreuzen, an denen Gläubige bei Flurprozes­sionen vorbeizieh­en – oder eben bei Flurritten wie in Weingarten.

Wenn man bei diesem Lapsus über die Flure kurz lächeln musste, so hatte das Gründe: Unwillkürl­ich kam einem jenes einfältige Liedchen in den Sinn, mit dem das Duo Klaus & Klaus vor knapp 40 Jahren bei TV-Blödelshow­s punktete: „Da steht ein Pferd aufm Flur“. Zudem wurden Kindheitse­rlebnisse wach.

Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

Erich Kästner stand hoch im Kurs bei uns: „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“, „Das doppelte Lottchen“... Sein Buch „Der 35. Mai“war nicht so gefragt, dabei garantiert diese Geschichte enorme Fantasiesc­hübe. Da steht auch ein Pferd aufm Flur. Sein Name Negro Kaballo, und seine Besonderhe­it: Es läuft Rollschuh. Auf seinem Rücken rollern dann der Schuljunge Konrad und sein Apotheker-Onkel Ringelhuth bis in die Südsee, wo sie auf den Insulanerh­äuptling Rabenaas und dessen schwarz-weiße Tochter Petersilie treffen … Ketzerisch­er Gedanke am Rande: Negro als Vorname? Eine BIPoC namens Rabenaas? Ein Mädchen mit Schachbret­thaut? Politisch korrekte Kinderbuch­Kommissare scheinen diesen Roman noch nicht entdeckt zu haben. Hoffen wir, dass das so bleibt!

Und hoffen wir, dass letztlich die 200 Caballos in Weingarten ausrücken dürfen – über die Fluren, wohlgemerk­t.

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg ●»

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FOTO: ROLAND RASEMANN
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Rolf Waldvogel

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