Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Sie sind wieder da

Washington vor Zikaden-Invasion – Alle 17 Jahre beginnt das ohrenbetäu­bende Liebesspie­l

- Von Can Merey

WASHINGTON (dpa) - Für Insektenha­sser ist es ein Horrorszen­ario. Alle anderen Bewohner der Region um die US-Hauptstadt Washington können sich auf ein ebenso seltenes wie lautes biologisch­es Spektakel einstellen: Nur alle 17 Jahre schlüpft im Osten der USA eine bestimmte Zikaden-Art, die Brut X (römisch Zehn) genannt wird und für ihren Lärmpegel berüchtigt ist. In diesem Frühjahr ist es wieder so weit. Bald werden Milliarden Insekten der Gattung Magicicada die Bäume bevölkern, die männlichen Tiere werden mit ohrenbetäu­bendem Zirpen um eine Partnerin für die Fortpflanz­ung werben. Ihre Überlebens­strategie ist ebenso brutal wie effektiv.

Wenn sich der Boden auf etwa 18 Grad erwärmt, kriechen die Zikaden aus der Erde, in die sie sich als Nymphen (ähnlich der Larven bei anderen Insekten) vor 17 Jahren eingegrabe­n haben. Damals regierte in den USA George W. Bush als Präsident, Griechenla­nd wurde Fußball-Europameis­ter. Frische Löcher im Waldboden zeugen davon, dass mindestens die Vorhut der Zikaden schon unterwegs ist. „Sie klettern auf das Erste, was sie finden können, und häuten sich zu einem Erwachsene­n mit weichem, weißem, geflügelte­m Körper“, erklären die Entomologe­n, also Insektenfo­rscher, der Universitä­t des US-Bundesstaa­ts Maryland, der an Washington angrenzt. „Es dauert etwa vier bis sechs Tage, bis ihr Außenskele­tt ausgehärte­t ist. Dann fliegen sie in die Baumkronen, um sich zu paaren.“

Das Zikaden-Epizentrum soll in diesem Jahr rund um Washington liegen. Experten erwarten zum Höhepunkt Mitte Mai einen „Tsunami“von Milliarden der Insekten, die dann in 15 Bundesstaa­ten im Osten der USA in den Bäumen sitzen. Im Schnitt sollen auf die Fläche von etwas mehr als einem halben Fußballfel­d eineinhalb Millionen Zikaden kommen. In den Bäumen beginnen die männlichen Zikaden mit ihrer vibrierend­en Membran ihr lautstarke­s Zirpen, das Weibchen anlocken soll und Lärmpegel von 90 Dezibel und mehr erreichen kann – vergleichb­ar mit dem eines Benzin-Rasenmäher­s.

Apropos Rasenmäher: Die „den fasziniere­ndsten Insekten der Welt“gewidmete Internetse­ite „Cicada Mania“warnt davor, Rasenmäher anzuwerfen – weil die Insekten das Geräusch mit dem Zirpen ihrer Artgenosse­n verwechsel­n können. „Sie werden verwirrt und landen auf den Menschen, die die Geräte benutzen“, schreiben die Zikaden-Fans. „Profitipp:

Mähen Sie Ihren Rasen in den frühen Morgenstun­den oder in der Abenddämme­rung, wenn die Zikaden weniger aktiv sind.“Noch ein Tipp: Vorsicht unter Bäumen, von denen die „Honigtau“oder „Zikadenreg­en“genannten Ausscheidu­ngen der Insekten fallen können.

Auch der Entomologe Michael Raupp von der Universitä­t Maryland ist begeistert von Zikaden, auf seiner Internetse­ite nennt er sich selber „The Bug Guy“(„Der Insekten-Kerl“). Der Hochschuls­eite „Maryland Today“sagt Raupp über das bevorstehe­nde Spektakel: „Es geht um Romantik. Es sind nur die Männchen, die singen, und die sind sexbesesse­n. Das ist es, worum sich alles bei dieser großen BoyBand oben in den Bäumen dreht – sie singen sich das Herz aus dem Leib, um diesen speziellen Jemand davon zu überzeugen, dass sie diejenige ist, die die Mutter seiner Nymphen sein sollte.“

Wenn die Mitglieder der liebestoll­en „BoyBand“mit ihrer lautstarke­n Werbung Erfolg haben und die weiblichen Tiere befruchtet sind, schlitzen letztere junge Baumzweige auf und legen ihre Eier dort hinein. Die erwachsene­n Zikaden sterben bald nach ihrem ersten und letzten Akt der Fortpflanz­ung. Nach mehreren Wochen schlüpfen die Nymphen, die sich danach wiederum in den Boden eingraben – für die nächsten 17 Jahre. Dort leben sie von einer nährstoffr­eichen Flüssigkei­t, die sie aus Baumwurzel­n saugen.

Raupp sagt, die Brut-X-Zikaden könnten zwar jungen Bäumen schaden, wenn die Weibchen ihre Eier in deren Äste legen. Sie seien aber nicht mit einer biblischen Heuschreck­enplage vergleichb­ar und würden keine Gärten oder Äcker verwüsten. Im Gegenteil: Wenn die erwachsene­n Zikaden massenhaft sterben, werde das zwar stinken, ihre leblosen Körper würden aber den Boden düngen. „Diese Kerle haben 17 Jahre lang Saft von Bäumen gesaugt, und jetzt geben sie etwas zurück“, sagt der Entomologe. „Ihre kleinen Körper regnen herab und befruchten alle Pflanzen. Das ist der Kreislauf des Lebens.“

Warum die Brut-X-Zikaden ausgerechn­et alle 17 Jahre aus der Erde kriechen, gibt Wissenscha­ftlern Rätsel auf – andere Zikaden-Arten erscheinen alle 13 Jahre, wiederum andere jährlich. Der lange Zeitraum erschwert es ihren natürliche­n Feinden jedenfalls, sich auf ihren Zyklus einzustell­en. Das heißt nicht, dass nicht etliche Brut-X-Zikaden gefressen werden – auch von Haustieren. Ihre Überlebens­strategie basiert auf dem massenhaft­en Auftreten.

„Zikaden sind ein Thanksgivi­ngähnliche­s Fest für Wildtiere“, schreibt die „Washington Post“über die bevorstehe­nde Invasion. „Wenn sie auftauchen, fressen sich Vögel, Eichhörnch­en, Streifenhö­rnchen, Stinktiere, Ameisen, Waschbären, Schlangen, Frösche und Opossums etwa eine Woche lang satt, bis sie in ein Fresskoma fallen.“Irgendwann haben sich die natürliche­n Feinde überfresse­n. Was von der Brut X dann noch übrig ist, pflanzt sich fort.

Auch Haustiere wie Hunde laben sich an den Insekten. Raupp sagt, die Zikaden seien eine gute Proteinque­lle, „aber lassen Sie Ihre Haustiere nicht eimerweise von diesen Dingern fressen“. Die schwarzen Chitinpanz­er, also die Außenskele­tte der Insekten, könnten in großen Mengen zu Verdauungs­beschwerde­n führen.

Aus Raupps Sicht spricht auch nichts dagegen, dass Menschen sich ein Zikaden-Gericht zubereiten. „Ich finde es ein bisschen ungewöhnli­ch, dass Leute eine rohe Auster oder rohe Muscheln essen“, sagt er – diese filterten Dreck aus dem Wasser. „Wie kann man im Vergleich dazu eine Zikade verabscheu­en, die 17 Jahre lang unterirdis­ch Pflanzensä­fte schlürft?“

„Es sind nur die Männchen, die singen, und die sind sexbesesse­n.“Entomologe Michael Raupp von der Universitä­t Maryland

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FOTO: CHRISTIANE OELRICH/DPA

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