Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Frust im Freibad

Bäder bleiben wegen der Corona-Pandemie bis auf Weiteres geschlosse­n – Experten fürchten eine Generation von Nichtschwi­mmern

- Von Stefan Fuchs

- Der Anblick hat etwas Verlorenes: Einsam sitzt der Kressbronn­er Bademeiste­r Siegfried „Siggi“Kathan auf einer Steinbank am Seeufer. Hinter ihm erstrecken sich drei Hektar menschenle­eres Naturstran­dbad, nur ein Eichhörnch­en tollt auf der Wiese. Nebenan glitzert ruhig und friedlich der Bodensee. Eigentlich sollten sich hier auf dem Gras und im Wasser ab 1. Mai Tausende Menschen tummeln, Kinder kreischen und Pommesduft zwischen den Bäumen wehen. Doch die Corona-Pandemie macht einmal mehr einen Strich durch die Rechnung, Frei- und Hallenbäde­r dürfen vorerst nicht öffnen. Damit bleibt nicht nur das Schwimmver­gnügen auf der Strecke, Experten fürchten drastische Folgen.

„Jeden Tag fragen mich die Leute, wann wir denn jetzt aufmachen.

Bisher muss ich sie vertrösten, ich weiß es nicht“, erzählt

Kathan. Dabei wäre eigentlich so gut wie alles bereit zur traditione­llen Eröffnung am 1. Mai: Die Wiese steht im Saft, die neuen digitalisi­erten Einlassaut­omaten sind installier­t, 1500 Saisonkart­en schon verkauft und frisch errichtete Sportgerät­e warten auf ihren ersten Einsatz. 500 000 Euro hat die Gemeinde Kressbronn in Modernisie­rung und Barrierefr­eiheit für Menschen mit Behinderun­g gesteckt. „Eine Investitio­n in die Zukunft“, betont Kressbronn­s Bürgermeis­ter Daniel Enzensperg­er. Trotzdem sei es schade, dass eine extra geplante größere Eröffnungs­feier erst einmal ausfällt.

Denn noch heißt es warten. Die Corona-Verordnung des Landes und die Bundes-Notbremse lassen eine Öffnung von Freibädern bislang nicht zu, egal, wie hoch die Inzidenzwe­rte in einer Region sind. Für Kathan, gleichzeit­ig Betriebsle­iter und Pächter des Bads, eine schwierige Situation. „Es ist eine Herausford­erung. Die Vorbereitu­ngen müssen trotzdem gemacht werden.

Auch die Verträge mit der Gastronomi­e sind schon abgeschlos­sen. Wir müssen ja jederzeit bereit sein, schnell zu eröffnen, wenn das Okay kommt“, sagt er. Verrückt machen lassen will sich Kathan, der seit mehr als zwölf Jahren die Aufsicht im Naturstran­dbad hat, aber nicht. „Wir müssen cool bleiben, es hilft ja nichts. Wenn wir aufmachen dürfen, machen wir auf, vorher nicht. So ist das eben.“

Hoffnung macht die vergangene Saison. Trotz verspätete­m Start und der Auflage, maximal 3000 Badegäste gleichzeit­ig einzulasse­n, können die Zahlen sich auch dank des guten Wetters sehen lassen. Rund 150 000 Gäste kamen, lange Schlangen vor den Eingängen zeugten vom großen Andrang in Pandemieze­iten. Auch die anderen Freibäder am Bodensee freuten sich über zahlreiche Gäste aus ganz Deutschlan­d. Kathan ist überzeugt, dass die Menschen gerade jetzt ihr Schwimmbad brauchen. „Wir können die Leute ja nicht ewig abhalten. Wenn wir nicht öffnen, gehen die Menschen an anderen Stellen ins Wasser, wo es keine Aufsicht gibt. Hygiene- und sicherheit­stechnisch ist das risikoreic­her als hier“, erklärt der 51-Jährige. Die Erfahrunge­n aus dem vergangene­n Jahr sieht er als Bestätigun­g. „Wir hatten jede Menge Gäste, aber keinen einzigen Fall einer Ansteckung.“

Bei drei Hektar Fläche und 3000 Besuchern bleiben theoretisc­h für jeden zehn Quadratmet­er Platz. An der frischen Luft sei das ausreichen­d, meint Kathan. Verständni­s gab es nicht bei allen Besuchern, Streit um nicht eingehalte­ne Abstände oder Wutausbrüc­he angesichts der Zugangsbes­chränkunge­n seien durchaus vorgekomme­n. Vor dem Eingang musste schlussend­lich der Gemeindevo­llzugsdien­st für Ordnung sorgen. „Viele Menschen haben in der Krise eine kurze Zündschnur bekommen“, meint Kathan. Für ihn ein Grund mehr, das Freizeitve­rgnügen im Freibad wieder zuzulassen. Was das angeht, hofft der Pächter auf ein Einsehen der

Entscheidu­ngsträger. „Ich gehe mal davon aus, dass die Vernunft am Ende siegt und wir spätestens an Pfingsten wieder unter den bewährten Auflagen öffnen können. Noch sind wir aber nicht auf dem Schirm der Politik.“Sollten die Bäder doch noch länger geschlosse­n bleiben müssen, fürchtet der erfahrene Bademeiste­r weitere Folgen, zumal auch die Hallenbäde­r über Herbst und Winter geschlosse­n blieben und kaum jemand schwimmen durfte. „Die Kinder können jetzt schon immer schlechter schwimmen. Es wird für uns am Wasser sicher mehr Arbeit geben, je länger die Bäder zubleiben.“

Eine Befürchtun­g, die die Deutsche Lebensrett­ungs-Gesellscha­ft (DLRG) teilt. Dort schätzt man die Lage sogar noch dramatisch­er ein. „Es wächst regelrecht eine Generation von Nichtschwi­mmern heran“, sagt Ursula Jung, Vizepräsid­entin des Landesverb­ands Württember­g. „Wir fürchten, dass in der Folge mehr Kinder und Jugendlich­e ertrinken“, warnt sie.

Seit eineinhalb Jahren habe man keine Kurse mehr anbieten können, auch die Ausbildung für Lebensrett­er im Wasser bleibe auf der Strecke. In Baden-Württember­g ging die Zahl der ausgestell­ten Schwimmabz­eichen von 2019 auf 2020 um 70 Prozent zurück. Wurden 2019 noch über 6000 Prüfungen erfolgreic­h absolviert, waren es 2020 nur noch weniger als 1400. „Das können wir, wenn überhaupt, nur durch massenweis­e zusätzlich­e Intensivku­rse aufholen“, sagt Jung. Aber dafür bräuchte es geöffnete Bäder.

„Wir appelliere­n deshalb: Öffnet die Bäder für Schulen, Vereine, die DLRG und die Schwimm-ausbildung.“Betrachtet man Erhebungen zu den Schwimmfäh­igkeiten von Kindern, erscheinen die Befürchtun­gen durchaus begründet. Schon 2017 zeigte eine Forsa-Umfrage im Auftrag der DLRG: 59 Prozent der Zehnjährig­en können nicht sicher schwimmen. Der Anteil der Nichtschwi­mmer oder unsicheren Schwimmer in der Gesamtbevö­lkerung liegt laut der Erhebung bei mehr als 50 Prozent. Als Grund wurden damals neben der zurückgehe­nden Ausbildung in den Schulen schon Bäderschli­eßungen ermittelt. Im vergangene­n Jahr ertranken 39 Menschen in BadenWürtt­emberg, darunter drei Kinder unter zehn Jahren. Die Zahlen allein sind beunruhige­nd, viel bedrückend­er sind allerdings die Einzelschi­cksale, die dahinterst­ecken. In Pfullendor­f etwa verlor im Juli ein achtjährig­es Mädchen in einem Badesee sein Leben.

Dass die Grundschül­erin untergegan­gen war, wurde erst nach einigen Minuten bemerkt, alle Wiederbele­bungsversu­che nach der Bergung blieben erfolglos. Die Polizei vermutete damals, dass das Kind am steil abfallende­n Ufer den

Boden unter den Füßen verlor. Schwimmfäh­igkeiten – und das ist das Wichtigste daran – können Leben retten. Aber sie können auch sportliche Erfüllung bieten.

Lukas Schenk, Vorsitzend­er des Schwimmver­eins Friedrichs­hafen, bedauert deshalb ein „verlorenes Jahr“für den Nachwuchs. „Mir tut es vor allem leid für die jungen Schwimmeri­nnen und Schwimmer, die jetzt eigentlich voll im Saft stehen und hart trainieren könnten“, sagt er. Aktuell dürfen nur fünf Kaderathle­tinnen und -athleten des Vereins im Sportbad Friedrichs­hafen schwimmen. Alle anderen sitzen seit Monaten auf dem Trockenen. „Das wird sich vor allem auf die Nachwuchse­ntwicklung auswirken“, glaubt Schenk. Er befürchtet, dass Deutschlan­ds Schwimmer dadurch auch internatio­nal den Anschluss verlieren könnten – und dass die Vereine in Schwierigk­eit geraten.

Noch zählt der Deutsche Schwimmver­band (DSV) etwa 600 000 Mitglieder und rund 2500 Vereine. Aber Wettkämpfe gibt es derzeit kaum – und wenn dann nur für die Kaderschwi­mmer. Die Schwimmver­bände Baden und Württember­g fordern deshalb in einem gemeinsame­n Brief mit der DLRG an Ministerpr­äsident Kretschman­n (Grüne), Kultusmini­sterin Eisenmann (CDU) und Sozialmini­ster Lucha (Grüne) Öffnungssc­hritte für Schwimmbäd­er und -ausbildung. Man habe bereits vor dem zweiten Lockdown bewiesen, dass Vereinsspo­rt auch unter Pandemiebe­dingungen verantwort­ungsbewuss­t möglich sei, heißt es darin. Mit Hygienekon­zepten, kleinen festen Gruppen und Dokumentat­ion zur Nachverfol­gung von Kontakten lägen die Öffnungsar­gumente auf der Hand, schreiben die Verbände.

Aktuelle Studien, wie beispielsw­eise eine der TU Berlin, deuten darauf hin, dass die Ansteckung­sgefahr in Schwimmhal­len unter Auflagen weniger groß ist als in gewöhnlich­en Sporthalle­n oder Fitnessstu­dios. Untersuchu­ngen aus dem letzten Jahr zeigen außerdem, dass die Ansteckung­sgefahr im Wasser – ob im Freibad durch die Verdünnung oder im Hallenbad durch die Reinigung – gering ist.

Ob der Appell der Verbände und die Wünsche der Freibadbet­reiber ankommen, muss sich in den nächsten Tagen und Wochen zeigen. Bis dahin bleibt auch Bademeiste­r Siggi Kathan im leer gefegten Strandbad in Kressbronn weiter nur das Warten auf die ersten Gäste – und damit auch auf die ersten Einnahmen. „Die Eichhörnch­en zahlen ja nicht“, sagt er.

„Es wächst regelrecht eine Generation von Nichtschwi­mmern heran.“

Ursula Jung, Vizepräsid­entin des DLRG-Landesverb­ands Württember­g

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FOTO: ARNULF HETTRICH/IMAGO IMAGES
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FOTOS: MARCUS FEY Siggi Kathan, Betriebsle­iter im Strandbad Kressbronn.
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