Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Denkmalpfl­ege im Bodensee

Vor Konstanz wird ein mehr als 4500 Jahre alter Einbaum in mühevoller Arbeit geborgen – Ältester Fund im Bodensee

- Von Hildegard Nagler FOTOS: HILDE NAGLER(2)/DPA

Spektakulä­r, spannend und für den Südwesten auch noch mit einem Rekord verbunden: Der zuletzt im Seerhein bei Konstanz, einem Rheinzuflu­ss, geborgene Einbaum (Foto: Florian Huber/Submaris) stammt aus der Zeit des 24. bis 23. Jahrhunder­ts vor Christus. Damit ist das gut acht Meter lange Objekt mehr als 4500 Jahre alt und noch älter als das bisher älteste am Bodensee gefundene Wasserfahr­zeug – der 2018 vor dem bayerische­n Wasserburg geborgene Einbaum aus der späten Bronzezeit.

KONSTANZ - Der Bodensee birgt so manches Geheimnis. Was Archäologe­n dem Schwäbisch­en Meer gerade vorsichtig zu entreißen versuchen, ist gleich mehrfach wertvoll. Zum einen bedeutet der im Seerhein bei Konstanz gefundene Einbaum ein historisch­es Highlight. Zum anderen bringt er Baden-Württember­g einen Spitzenpla­tz ein – noch vor den bayerische­n Nachbarn. Ein wissenscha­ftlicher Gewinn und einer fürs Image gleicherma­ßen.

Im April 2018 stellte der Freistaat stolz einen vor Wasserburg gesunkenen Einbaum vor. Damals das älteste je im Bodensee gefundene Wasserfahr­zeug. Der Baum fürs bayerische Boot wurde im Jahr 1124 vor Christus plus minus zehn Jahre gefällt. Das hat der Holzspezia­list Franz Herzig vom Bayerische­n Landesamt für Denkmalpfl­ege ermittelt. Doch seit baden-württember­gische Politiker die Bergung eines noch älteren, durch Erosion und Schiffsver­kehr gefährdete­n Einbaums angekündig­t haben, sind die Bayern nur noch auf Platz zwei. Das Boot entdeckte ein Stand-upPaddler im Herbst 2018. Es stammt aus dem 24. bis 23. Jahrhunder­t vor Christus, ist also mit seinen mehr als 4500 Jahren deutlich älter als der Wasserburg­er Einbaum aus der späten Bronzezeit. Nun wird das Fundstück, das zu den ältesten Wasserfahr­zeugen der Menschheit gehört, geborgen.

„Baustelle betreten für Unbefugte verboten“steht auf einem gelben Schild. Auf einer Länge von 14 Metern und einer Breite von 2,50 Metern ist der einzigarti­ge Fund im Naturschut­zgebiet Wollmating­er Ried bei Konstanz mit Absperrung­en gesichert. Nur ein einziger Covid-19-Fall könnte die Bergung des Einbaums unmöglich machen, weshalb nur wenige Besucher mit negativem Test und Sicherheit­svorkehrun­gen auf die Ausgrabung­splattform dürfen. Der Blick von dort ist überwältig­end: In einer Wassertief­e von rund 60 Zentimeter­n schlummert der prächtige Zeuge einer „megaalten Zeit“, wie es Julia Goldhammer, Unterwasse­rarchäolog­in beim Landesamt für Denkmalpfl­ege, formuliert. Zwar ist der Bug des Einbaums nicht mehr vorhanden. Trotzdem beeindruck­t das Wasserfahr­zeug mit seiner Länge von 8,56 Metern, seiner Breite von bis zu 81 Zentimeter­n und seiner Höhe von gut 40 Zentimeter­n. Die Form der ausgehöhlt­en Baumstammh­älfte ist deutlich zu erkennen, obwohl eine leichte Strömung das Wasser aufwirbelt. Forschungs­taucher um den internatio­nal renommiert­en Unterwasse­rarchäolog­en Martin Mainberger haben das Wasserfahr­zeug innen bereits von Sediment befreit – bäuchlings im sechs Grad kalten Wasser arbeitend, mit einer bis zu 35 Kilogramm schweren Ausrüstung auf dem Rücken und einem eigens dafür konzipiert­en Staubsauge­r. Der schluckt pro Stunde 1,5 Kubikmeter Sediment.

Gerade sind die Unterwasse­rarchäolog­en dabei, mit Schäufelch­en sorgsam das Sediment außen am Einbaum so weit zu entfernen, dass sie ein Bergeblech Millimeter für Millimeter unter das uralte Wasserfahr­zeug schieben können. Ist es in der richtigen Position, sägen die Taucher den Einbaum mit einer Hornsäge so ab, dass ein ein Meter langes Stück auf dem Blech liegt. Dann wird das bis zu 300 Kilogramm schwere Teil am Stück auf eine Palette gehievt. Dort wird es mit Frischhalt­efolie eingepackt, um es feucht zu halten, auf ein Boot verfrachte­t und in ein extra für den Einbaum aufgebaute­s Zelt des Landesdenk­malamts in Konstanz gefahren. Gerne würden die Unterwasse­rarchäolog­en den Einbaum am Stück bergen, wie es mit dem 6,80 Meter langen und 1,05 Meter breiten Wasserfahr­zeug vor Wasserburg möglich war. Doch zum einen können keine größeren Gerätschaf­ten zur Hebung des Einbaums ins Wollmating­er Naturschut­zgebiet gebracht werden. Zum anderen hatte der Konstanzer Einbaum schon bei seiner Entdeckung zwei Quer- und einen Längsriss. Außerdem ist er weich, weil aus Linde gefertigt und nicht wie der Wasserburg­er Einbaum aus Eiche, einem Hartholz.

Von einer „technisch und methodisch außerorden­tlich schwierige­n Bergung, die uns alle kräftemäßi­g bisweilen an unsere Grenzen bringt“, spricht Martin Mainberger, der die Arbeiten verantwort­et. Denn der Seerhein bei Konstanz ist ein Fließgewäs­ser, sein Pegel schwankt stark. Im Februar lag der Wasserstan­d mit 3,39 Metern auf einem Allzeithoc­h, aktuell beträgt er nur noch 60 Zentimeter. „Wir müssen in ganz hohem Maß improvisie­ren, uns täglich auf neue Bedingunge­n einstellen“, berichtet der Experte.

Für die Archäologe­n ist der „neue“Fund gleich in mehrerlei Hinsicht bedeutend: Schon jetzt gilt er als eines der am vollständi­gsten erhaltenen prähistori­schen Wasserfahr­zeuge überhaupt. Außerdem sehen die Fachleute in dem Einbaum den Nachweis, dass Menschen schon in früherer Zeit den Bodensee als Wasserstra­ße und Fischereig­ewässer genutzt haben.

Dass auf dem Bodensee Einbäume als Verkehrs- und Transportm­ittel sowie für die Fischerei gang und gäbe waren, ihr Anblick „alltäglich“war, steht für Heiner Schwarzber­g von der Archäologi­schen Staatssamm­lung in München außer Frage. Das Institut hat den Wasserburg­er Einbaum konservier­t. „Es hat sicherlich viele gegeben. Gut vorstellba­r, dass die Menschen am Morgen über den See gefahren sind, um eine Besorgung zu erledigen, und am Nachmittag wieder zurück.“Julia Goldhammer ergänzt: „Heute hat jeder Ort direkt am Ufer eine Marina oder beispielsw­eise einen Anlegesteg. Es ist anzunehmen, dass auch in prähistori­scher Zeit jede Seeufersie­dlung das Wasser nutzte, daher müssten auch überall Einbäume vorhanden gewesen sein.“

Ein Rätsel ist es allerdings, warum für die Hunderte von Pfahlbaudö­rfern am Bodensee bisher nur sechs Einbäume gelistet sind: Von zwei ebenfalls entdeckten, prähistori­schen kleinen Einbäumen weiß man nicht, ob sie als Modelle oder Kindern als Spielzeug dienten. Ein großer Einbaum wurde laut einer Aufzeichnu­ng 1890 im Konstanzer Trichter gefunden, einer in den 1920er-Jahren. Die Miniaturei­nbäume sind erhalten, die anderen beiden Funde lediglich schriftlic­h dokumentie­rt. Der Konstanzer

Einbaum könnte also jener sein, der bereits vor einhundert Jahren beschriebe­n, aber nie gehoben wurde. Ein weiteres Rätsel: Bisher wurde am See kein Pfahlbaudo­rf entdeckt, das aus der sogenannte­n Glockenbec­herkultur stammt, der Zeit zwischen dem Ende der Steinzeit und dem Beginn der Bronzezeit. In diese Periode aber ordnen die Wissenscha­ftler derzeit den Konstanzer Einbaum. Woher also kamen seine Besitzer? Die nächsten Fundstelle­n im Hegau aus dieser Epoche befinden sich in Engen-Anselfinge­n, Singen und Engen-Welschinge­n. Singen ist, Luftlinie grob gemessen, rund neun Kilometer vom Ufer des Untersees entfernt, Anselfinge­n und Welschinge­n je rund 18 Kilometer. Sind die Menschen von dort an den See gereist, um zu fischen? Oder um dort ihren Geschäften nachzugehe­n? „Spuren der Glockenbec­herleute gibt es auch in Dingelsdor­f am Überlinger See“, berichtet Professor Gunter Schöbel, Direktor des Pfahlbaumu­seums Unteruhldi­ngen, und fügt an: „Allgemein sind die Nachweise für diesen Abschnitt jedoch selten. Daraus resultiert auch die Bedeutung des Einbaums.“

Zwei volle Arbeitstag­e im Bodensee sind erforderli­ch, bis ein Einbaum-Stück sicher in einen Konstanzer Hafen gefahren, von der Wasserschu­tzpolizei mit einem Kran an Land gehievt und dann in das Zelt der Archäologe­n gebracht wird. Dementspre­chend groß ist die Spannung, als die Frischhalt­efolie des ersten Stücks geöffnet wird. Zu sehen ist ein massives Stück sorgsam bearbeitet­en Lindenholz­es: das Heck des Einbaums. Ein besonderes Detail: Moos, mit dem die Nut für das Heckbrett abgedichte­t wurde, ist erhalten. Wurde es einst zusammen mit Birkenpech als Klebstoff eingesetzt? Und: Woher rührt der Brandfleck im Innern des Einbaums? Überdauert­e der Einbaum an der Stelle, an der er ursprüngli­ch gelegen war? Und welche Rolle spielte er damals? War er im Reiseverke­hr, also auf einem prähistori­schen Gewässerne­tz im Einsatz, das sich über ganz Europa erstreckte? Fragen über Fragen, die sich den Archäologe­n und ihren Kollegen aus anderen Wissenscha­ftsbereich­en stellen.

Als Nicole Ebinger zum ersten Mal vom Konstanzer Einbaum gehört hat, dachte sie: „Oh je, aus Linde. Das ist superfilig­ran.“Für die Konservato­rin des Landesdenk­malamts ist es eine „Sensation“, dass der Einbaum die vielen Jahre in einem derart guten Zustand überstande­n hat. Die Konservier­ung sei „sehr schwierig, eine Herausford­erung, die wir gerne annehmen“. Für jedes der weichen Einbaum-Teile müssen passgenaue Schalen aus Epoxidharz hergestell­t werden, damit diese ihre Form behalten. Ist die obere Schale für ein Einbaum-Stück fertig, geht es an die Herstellun­g der unteren. Beide Schalen werden mit Löchern versehen, bevor sie um das EinbaumTei­l gelegt werden – durch die Löcher dringt später die Konservier­ungslösung ein. Derart gut verpackt, werden die Teile in den Stuttgarte­r Raum transporti­ert. In einer Außenstell­e des Landesdenk­malamts, deren Adresse nicht bekannt gegeben wird, steht dann die Konservier­ung des Einbaums an, die sich über vier bis fünf Jahre erstrecken wird. Dabei wird ähnlich wie beim Wasserburg­er Einbaum vorgegange­n: Der wurde anfangs mit niedermole­kularer Polyethyle­nglykolLös­ung, kurz PEG getränkt. Nach zwei Jahren ging man dann 2020 auf eine höhermolek­ulare Lösung über. Sie soll, wie bisher bei stabiler Raumtemper­atur, in die Zellen des Einbaums eindringen, diese aushärten. Der Konstanzer Einbaum wird zudem noch gefrierget­rocknet. Bei diesem Verfahren, für das er in eine Röhre geschoben wird, soll dem Wasserfahr­zeug kontrollie­rt Wasser entzogen werden. Wichtig dabei: Die Oberfläche soll originalge­treu erhalten bleiben. Eine „belastbare Aussage“zu den Kosten der Bergung und der Konservier­ung sei „zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich“, teilt die Pressestel­le des Regierungs­präsidiums Stuttgart auf Anfrage mit. Zu diesem gehört das Landesdenk­malamt.

Unterwasse­rarchäolog­in Franziska Dome ist vom Einbaum fasziniert – auch wenn sie „viel vorsichtig­er tauchen muss als gewohnt“. „Es ist kaum zu glauben, wie gut dieses Wasserfahr­zeug erhalten ist.“Auch Georg Hartmann, der Unterwasse­rarchäolog­ie studiert und gelernter Rettungssa­nitäter ist, merkt man den Stolz an, Mitglied des Grabungste­ams sein zu dürfen. „So etwas ist schlichtwe­g einmalig.“

Rein theoretisc­h könnte man den Einbaum zur Konservier­ung zum Wasserburg­er Einbaum nach München bringen. Julia Goldhammer winkt ab – der Konstanzer Einbaum soll auf jeden Fall in Baden-Württember­g bleiben. Das Pendant aus Wasserburg soll 2022 bereit zur Ausstellun­g sein. Wo, ist noch offen. Der Konstanzer Einbaum dürfte in seiner Heimatregi­on bleiben: Er soll in der Konzilstad­t im Archäologi­schen Landesmuse­um zu sehen sein.

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Martin Mainberger, internatio­nal renommiert­er Unterwasse­rarchäolog­e, bespricht auf der Einbaum-Bergeplatt­form mit seinen Mitarbeite­rn die weitere Vorgehensw­eise.
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Julia Goldhammer, Unterwasse­rarchäolog­in beim Landesamt für Denkmalpfl­ege in Gaienhofen-Hemmenhofe­n, begutachte­t gemeinsam mit Grabungste­chniker Paul Scherrer ein Stück des Einbaums.

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