Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Für jede Geisel einen Tag Waffenruhe
Verhandlungen über eine mögliche Feuerpause in Gaza kommen voran – Israel geht erstmals auf Hamas-Kernforderung ein
- Arabische und westliche Spitzenpolitiker verstärken ihre Bemühungen um eine Waffenruhe in Gaza. Er hoffe, dass Israel und die Hamas dem jüngsten Vorschlagspaket zustimmen könnten, sagte der ägyptische Außenminister und Gaza-Vermittler Sameh Shoukry am Montag bei einem Treffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) in der saudischen Hauptstadt Riad.
Shoukry, US-Außenminister Antony Blinken und andere Akteure wollen das WEF-Treffen nutzen, um die Gespräche über eine Kampfpause voranzubringen. WEF-Chef Börge Brende sprach in Riad von „neuem Schwung“für eine Lösung. Einer der Gründe für den Optimismus ist, dass Israel erstmals auf eine Kernforderung des Kriegsgegners Hamas eingegangen ist.
Katar, Ägypten und die USA versuchen seit Wochen, Israel und die palästinensische Terrorgruppe Hamas auf eine neue Waffenruhe festzulegen. Die Vermittler standen mehrmals vor einem Durchbruch, scheiterten aber an der Kompromisslosigkeit der Konfliktparteien. Die bisher einzige Feuerpause seit Kriegsausbruch am 7. Oktober brachte im November rund hundert Geiseln der Hamas die Freiheit, hielt aber nur eine Woche. Weitere rund hundert Geiseln sind noch in der Gewalt der Hamas.
Tausende Zivilisten, die in Gaza festsitzen, könnten nach Einschätzung der UN verhungern, wenn nicht bald die Waffen schweigen. Israel droht mit einer Offensive auf die Stadt Rafah im Süden des Gaza-Streifens, wo sich mehr als eine Million Zivilisten drängen.
In den indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas
besteht grundsätzlich Einigkeit über eine 40-tägige Kampfpause, um eine bessere Versorgung der Zivilisten in Gaza und die Freilassung von 40 weiteren Hamas-Geiseln – Frauen, Kranken und älteren Männern – zu ermöglichen: eine Geisel für jeden Tag Waffenruhe.
Bisher scheiterte eine Einigung aber am Streit über drei Punkte. Die Hamas forderte, nach den ersten 40 Tagen Feuerpause solle eine unbegrenzte Waffenruhe mit dem Rückzug der israelischen
Armee aus Gaza beginnen – Israel lehnte das bisher ab und blieb bei seinem Kriegsziel, die Hamas militärisch zu vernichten. Israel wandte sich auch gegen die Rückkehr aller vertriebenen Zivilisten in den Norden des Gazastreifens. Zudem sagte die Hamas, sie habe nur noch etwa 20 weibliche, kranke und ältere Geiseln. Die übrigen sind demnach Männer unter 50 Jahren.
Sowohl die Hamas als auch Israel werden zu Zugeständnissen gedrängt. „Zum einen weiß die
Hamas, dass eine israelische Operation in Rafah ihre militärischen Fähigkeiten massiv gefährdet“, sagt Kristof Kleemann, Projektdirektor der Friedrich-NaumannStiftung in Jerusalem. „In Rafah befinden sich die letzten Kampfverbände der Hamas und von dort aus kontrolliert die Hamas auch den Waffenschmuggel aus Ägypten.“Eine Einigung auf eine Feuerpause würde den israelischen Angriff auf Rafah verhindern und der Hamas helfen, der völligen Zerschlagung zu entgehen.
Gleichzeitig wachse der innenpolitische Druck auf Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Israel, sagte Kleemann der „Schwäbischen Zeitung“. „Die Netanjahu-Regierung will mit einem Abkommen die israelische Bevölkerung besänftigen, auch wenn damit die eigene Regierung aufs Spiel gesetzt wird. Schließlich lehnen die rechten Hardliner in der Regierung ein Abkommen ab, wenn dafür zu viele Zugeständnisse gemacht werden müssen.“
Nun deuten sich neue Fortschritte an. US-Regierungsvertreter sagten vorige Woche, bei der Hamas gebe es neue Signale für eine Einigung. Der Hamas-Funktionär Khalil al-Hayya, einer der Unterhändler in den Gesprächen über eine Feuerpause, bot ein endgültiges Ende des bewaffneten Kampfes gegen Israel an, wenn der jüdische Staat der Gründung eines Palästinenser-Staates zustimme.
Israel erklärte sich nach einem Bericht der US-Nachrichtenseite „Axios“bereit, über die HamasForderung nach einer dauerhaften „Ruhe“in Gaza, über die Rückkehr von Zivilisten in den Norden des Gazastreifens und über einen Teilabzug der israelischen Armee zu sprechen. Hamas-Funktionär Hayya erklärte, seine Organisation prüfe die neuesten israelischen Vorschläge, die ägyptische Vermittler in den vergangenen Tagen in Israel abgeholt hatten; Hayya wollte am Montag nach Ägypten reisen. Zudem veröffentlichte die Hamas neue Videos einiger Geiseln, offenbar um zu beweisen, dass sie leben. Seit November seien die Kriegsparteien nicht mehr so nahe an einer Einigung gewesen, sagt Kleemann.
Hayya will nach israelischen Medienberichten in den kommenden Tagen die Antwort der Hamas auf die jüngsten israelischen Vorschläge an die Vermittler schicken. Dass eine Einigung den Krieg beenden könnte, ist trotz aller Fortschritte aber unsicher. Sowohl Israels Regierung als auch die Hamas hätten in den vergangenen sechs Monaten an Legitimität verloren, sagte der NahostExperte Osman Bahadir Dincer von der Bonner Denkfabrik Bicc der „Schwäbischen Zeitung“. Doch für eine stabile Feuerpause müsse es „auf beiden Seiten verantwortliche und legitime Akteure geben“.