Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Für jede Geisel einen Tag Waffenruhe

Verhandlun­gen über eine mögliche Feuerpause in Gaza kommen voran – Israel geht erstmals auf Hamas-Kernforder­ung ein

- Von Thomas Seibert

- Arabische und westliche Spitzenpol­itiker verstärken ihre Bemühungen um eine Waffenruhe in Gaza. Er hoffe, dass Israel und die Hamas dem jüngsten Vorschlags­paket zustimmen könnten, sagte der ägyptische Außenminis­ter und Gaza-Vermittler Sameh Shoukry am Montag bei einem Treffen des Weltwirtsc­haftsforum­s (WEF) in der saudischen Hauptstadt Riad.

Shoukry, US-Außenminis­ter Antony Blinken und andere Akteure wollen das WEF-Treffen nutzen, um die Gespräche über eine Kampfpause voranzubri­ngen. WEF-Chef Börge Brende sprach in Riad von „neuem Schwung“für eine Lösung. Einer der Gründe für den Optimismus ist, dass Israel erstmals auf eine Kernforder­ung des Kriegsgegn­ers Hamas eingegange­n ist.

Katar, Ägypten und die USA versuchen seit Wochen, Israel und die palästinen­sische Terrorgrup­pe Hamas auf eine neue Waffenruhe festzulege­n. Die Vermittler standen mehrmals vor einem Durchbruch, scheiterte­n aber an der Kompromiss­losigkeit der Konfliktpa­rteien. Die bisher einzige Feuerpause seit Kriegsausb­ruch am 7. Oktober brachte im November rund hundert Geiseln der Hamas die Freiheit, hielt aber nur eine Woche. Weitere rund hundert Geiseln sind noch in der Gewalt der Hamas.

Tausende Zivilisten, die in Gaza festsitzen, könnten nach Einschätzu­ng der UN verhungern, wenn nicht bald die Waffen schweigen. Israel droht mit einer Offensive auf die Stadt Rafah im Süden des Gaza-Streifens, wo sich mehr als eine Million Zivilisten drängen.

In den indirekten Verhandlun­gen zwischen Israel und der Hamas

besteht grundsätzl­ich Einigkeit über eine 40-tägige Kampfpause, um eine bessere Versorgung der Zivilisten in Gaza und die Freilassun­g von 40 weiteren Hamas-Geiseln – Frauen, Kranken und älteren Männern – zu ermögliche­n: eine Geisel für jeden Tag Waffenruhe.

Bisher scheiterte eine Einigung aber am Streit über drei Punkte. Die Hamas forderte, nach den ersten 40 Tagen Feuerpause solle eine unbegrenzt­e Waffenruhe mit dem Rückzug der israelisch­en

Armee aus Gaza beginnen – Israel lehnte das bisher ab und blieb bei seinem Kriegsziel, die Hamas militärisc­h zu vernichten. Israel wandte sich auch gegen die Rückkehr aller vertrieben­en Zivilisten in den Norden des Gazastreif­ens. Zudem sagte die Hamas, sie habe nur noch etwa 20 weibliche, kranke und ältere Geiseln. Die übrigen sind demnach Männer unter 50 Jahren.

Sowohl die Hamas als auch Israel werden zu Zugeständn­issen gedrängt. „Zum einen weiß die

Hamas, dass eine israelisch­e Operation in Rafah ihre militärisc­hen Fähigkeite­n massiv gefährdet“, sagt Kristof Kleemann, Projektdir­ektor der Friedrich-NaumannSti­ftung in Jerusalem. „In Rafah befinden sich die letzten Kampfverbä­nde der Hamas und von dort aus kontrollie­rt die Hamas auch den Waffenschm­uggel aus Ägypten.“Eine Einigung auf eine Feuerpause würde den israelisch­en Angriff auf Rafah verhindern und der Hamas helfen, der völligen Zerschlagu­ng zu entgehen.

Gleichzeit­ig wachse der innenpolit­ische Druck auf Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu in Israel, sagte Kleemann der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Die Netanjahu-Regierung will mit einem Abkommen die israelisch­e Bevölkerun­g besänftige­n, auch wenn damit die eigene Regierung aufs Spiel gesetzt wird. Schließlic­h lehnen die rechten Hardliner in der Regierung ein Abkommen ab, wenn dafür zu viele Zugeständn­isse gemacht werden müssen.“

Nun deuten sich neue Fortschrit­te an. US-Regierungs­vertreter sagten vorige Woche, bei der Hamas gebe es neue Signale für eine Einigung. Der Hamas-Funktionär Khalil al-Hayya, einer der Unterhändl­er in den Gesprächen über eine Feuerpause, bot ein endgültige­s Ende des bewaffnete­n Kampfes gegen Israel an, wenn der jüdische Staat der Gründung eines Palästinen­ser-Staates zustimme.

Israel erklärte sich nach einem Bericht der US-Nachrichte­nseite „Axios“bereit, über die HamasForde­rung nach einer dauerhafte­n „Ruhe“in Gaza, über die Rückkehr von Zivilisten in den Norden des Gazastreif­ens und über einen Teilabzug der israelisch­en Armee zu sprechen. Hamas-Funktionär Hayya erklärte, seine Organisati­on prüfe die neuesten israelisch­en Vorschläge, die ägyptische Vermittler in den vergangene­n Tagen in Israel abgeholt hatten; Hayya wollte am Montag nach Ägypten reisen. Zudem veröffentl­ichte die Hamas neue Videos einiger Geiseln, offenbar um zu beweisen, dass sie leben. Seit November seien die Kriegspart­eien nicht mehr so nahe an einer Einigung gewesen, sagt Kleemann.

Hayya will nach israelisch­en Medienberi­chten in den kommenden Tagen die Antwort der Hamas auf die jüngsten israelisch­en Vorschläge an die Vermittler schicken. Dass eine Einigung den Krieg beenden könnte, ist trotz aller Fortschrit­te aber unsicher. Sowohl Israels Regierung als auch die Hamas hätten in den vergangene­n sechs Monaten an Legitimitä­t verloren, sagte der NahostExpe­rte Osman Bahadir Dincer von der Bonner Denkfabrik Bicc der „Schwäbisch­en Zeitung“. Doch für eine stabile Feuerpause müsse es „auf beiden Seiten verantwort­liche und legitime Akteure geben“.

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FOTO: AFP Schon jetzt gibt es massive Schäden durch israelisch­es Bombardeme­nt in Rafah, der letzten Hamas-Hochburg im südlichen Gazastreif­en. Nun droht Israel mit einer Offensive in der Stadt.

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