Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Die EU ist das Wesentliche, nicht der Euro“
Der frühere tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg zum Zustand Europas
- Karel Schwarzenberg sieht in der Europäischen Union einen Garant für den Wohlstand und die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Mitgliedsländer. Es sei doch „unfassbar“, wieviel durch die EU erreicht wurde, sagte der frühere tschechische Außenminister im Gespräch mit Marie Illner. Gleichzeitig kritisierte er, eine „groteske“Kompetenzverteilung zwischen Brüssel und den Nationalstaaten. Die EU gehe den Menschen durch Vorschriften auf die Nerven, „die man auf regionaler Ebene besser lösen könnte“. BOCHUM
Herr Schwarzenberg, was ist aktuell die größte Aufgabe der Europäischen Union?
Wesentlich zu werden. Es ist ein grotesker Zustand, dass Brüssel zwar reguliert, ob etwas Marmelade genannt werden darf oder nicht, oder ob ein köstlicher Schafskäse unter polnischem oder slowakischem Namen eingeführt werden muss, aber die Außen-, Sicherheits-, Verteidigungsund Energiepolitik nach wie vor bei den Nationen residiert. Umgekehrt geht die EU den Menschen durch Vorschriften auf die Nerven, die man auf regionaler Ebene besser lösen könnte.
Wie kann aus Ihrer Sicht die Akzeptanz der EU bei den Bürgern gestärkt werden?
Wenn die Fragen, die die Menschen unmittelbar betreffen, auch unmittelbar – und nicht in Brüssel – entschieden werden, dann werden die Menschen Brüssel nicht als die ferne Macht über die Entscheidungen empfinden. Und umgekehrt: Wenn die EU ihre Bürger international europäisch vertritt, dann werden sie sie akzeptieren.
Was leistet die EU für ihre Bürger, was der Nationalstaat nicht leisten kann?
Die europäischen Mächte – auch die großen wie Frankreich und Deutschland – sind heute zu klein, um in der ersten Liga der Welt mitzuspielen. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, China, Russland, Indien und Indonesien sind sie geradezu Kleinstaaten. Deshalb braucht es einen Zusammenschluss wie die EU. Außerdem bietet sie einen gemeinsamen Markt. Es ist doch nahezu unfassbar, welcher Wohlstand und welche wirtschaftliche Entwicklung durch die EU erreicht wurde. Aber der Irrtum, dem manche erliegen, ist, die EU nur als eine wirtschaftliche Einheit zu sehen. Sie wurde von ihren Gründern als ein politisches und nicht nur als rein wirtschaftliches Projekt erdacht. Die EU ist das Wesentliche, nicht der Euro.
Der Zustrom von Hunderttausenden Menschen spaltet die Europäische Union. Was braucht es für ei-
Generationen. Es ist nun einmal ein Unterschied, ob man wie beispielsweise Portugal durch Kolonien und Seefahrt bereits im 15. Jahrhundert Erfahrungen mit dem Fremden gemacht hat, oder ob das Fremde ein neues Phänomen ist. Die Tschechen sind damals nach Nürnberg, die sehr Kühnen bestenfalls nach Venedig gekommen. Dazu kommt, dass die Tschechen von 1939 bis 1989 in einem Lager eingesperrt waren. Das braucht mehrere Generationen, bevor das ausgeglichen wird.
Tschechien nimmt nicht die Anzahl an Flüchtlingen auf, die es im Rahmen des EU-Umverteilungsprogramms eigentlich aufnehmen müsste. Finden Sie die Kürzung von EU-Geldern als Strafe angemessen?
Die Idee, Quoten vorzuschreiben, statt es mit den Staaten auszuhandeln, war eine politische Katastrophe. Zu den reduzierten Zahlungen: Im Westen sieht man diese als Almosen oder Wohltat gegenüber unseren Länder. Es ist richtig, dass wir ärmer sind, aber bitte fragen wir zunächst einmal: warum? Die Tschechoslowakei war vor dem Krieg auf demselben Niveau wie beispielsweise Belgien. Nur hat uns dann Deutschland in einem Krieg besetzt, und die Folge des Zweiten Weltkriegs war, dass wir bis 1989 unter sowjetischer Vorherrschaft waren. Das hat uns zurückgeworfen – und das vergisst man im Westen. Man muss nach den Gründen der Staaten fragen und nicht einfach sagen: Die Schnorrer schöpfen unser Geld ab.
Tschechien hat bislang zwölf Flüchtlinge aufgenommen, laut Umverteilungsschlüssel entfielen auf das Land weniger als 5000. Was müsste geschehen, damit Tschechien bereit wäre, Flüchtlinge aufzunehmen?
Ein anderes Verhalten von Brüssel und den anderen europäischen Staaten.
Die EU hat einiges im Kampf gegen den internationalen Terrorismus getan: Eine neue GeldwäscheRichtlinie, anonyme Kryptowährungen oder die Überwachung von Flügen aus Drittstaaten in die EU. Reicht das?
Auch der Kampf gegen den internationalen Terrorismus hat mit der Flüchtlingskrise zu tun: Solange die sozialen Zustände in Syrien und den anderen Ländern so sind, wie sie sind, dann werden Terroristen immer Opfer finden. Woher kommen die meisten europäischen Flüchtlinge? Aus dem Kosovo, dort liegt die Arbeitslosigkeit bei 65 Prozent. Wir müssen uns bewusst werden: Europa kann nicht als Insel des Wohlstands in einem Meer aus Elend in Afrika und im vorderen Orient leben. Ich halte den Brexit für eine Katastrophe. Ich habe die hämische Freude, dass man die lästigen Engländer los wird, in manchen Ländern auf dem Kontinent nie verstanden. England ist ein elementares, ein wesentlich europäisches Land. Und dieses gehen zu lassen, anstatt alles zu unternehmen, um es in der EU zu behalten, ist purer Wahnsinn. Man sagt: „Wir werden keine Ausnahme zu lassen“– und verliert deswegen Großbritannien.
London hat in der Vergangenheit mehrfach eine engere Zusammenarbeit in der europäischen Verteidigungspolitik blockiert. Rückt das Projekt der europäischen Armee nun näher?
Ich hoffe es. Wobei wir uns klar sein müssen: Die wesentliche Verteidigung für die Europäer ist die Nato. Aber wir haben zwei Mächte im Bündnis der Nato, die eigene Interessen haben, und die sind nicht völlig identisch mit denen der Europäischen Union. Das sind einerseits die Vereinigten Staaten – das wurde in der letzten Zeit etwas klarer – und das ist andererseits die Türkei. Deshalb müssen wir Kräfte in Europa haben, die ohne Zustimmung der Türkei und der USA aktiv werden können.