Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Polen demonstrie­ren für die Unabhängig­keit der Justiz

Zehntausen­de fordern Präsident Andrzej Duda in Warschau auf, sein Veto gegen die Aushebelun­g des Rechtsstaa­tes einzulegen

- Von Gabriele Lesser

- Bevor der polnische Senat am Freitag über die umstritten­e Justizrefo­rm debattiert, versuchen Zehntausen­de Polen in den frühen Morgenstun­den, den Präsidente­n Andrzej Duda von seiner Zustimmung abzuhalten. Seine Unterschri­ft ist dafür noch notwendig. Für Anna, Tomek und ihre Freunde ist es ihre erste Demonstrat­ion. Kurz vor Mitternach­t skandieren sie vor dem hell erleuchtet­en Präsidente­npalast in Warschau: „Wir wollen ein Veto!“und „Freie Gerichte!“

Alle fünf studieren Jura. Anna will einmal Richterin werden. Zusammen mit Zehntausen­den Polen versucht sie im letzten Moment, die Gleichscha­ltung der Justiz zu verhindern. Innerhalb weniger Tage hatte die nationalpo­pulistisch­e Regierungs­partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) mit ihrer absoluten Mehrheit im Parlament ein Gesetzespa­ket durchgewun­ken, mit dem Polens bislang unabhängig­e Richter dem PiS-geführten Justizmini­sterium unterstell­t werden, so wie zuvor auch schon die Staatsanwä­lte. WARSCHAU

„Der Präsident ist auch Jurist. Er hat in Krakau studiert“, sagt Anna verzweifel­t. Sie hat Tränen in den Augen. „Nur er kann mit einem Veto die Katastroph­e noch aufhalten. Aber auch er ist ja ein PiS-Mann.“Wie fast alle Demonstran­ten – das Warschauer Rathaus schätzt die Zahl auf rund 50 000 – streckt sie den Arm mit der weiß-flackernde­n Grabeskerz­e in den tiefschwar­zen Himmel und ruft: „Freiheit! Freiheit!“Tomek schwenkt eine große EU-Fahne. „Wir haben uns bisher nicht für Politik interessie­rt“, schreit er gegen den Lärm an. „Jetzt bekommen wir dafür die Rechnung. Wie soll ich jemanden verteidige­n, wenn das Urteil vom Parteibuch abhängt?“

Der 24-Jährige will Rechtsanwa­lt werden. „Der normale Bürger wird keine Chance mehr auf einen fairen Prozess haben. Es wird nur noch PiSStaatsa­nwälte und PiS-Richter geben. Das ist das Ende!“Er schüttelt den Kopf, schwenkt wieder die Fahne und umarmt seine Freundin Anna: „Wenn der Präsident kein Veto einlegt, wandern wir aus. Wir haben noch unser ganzes Leben vor uns!“

Eine ältere Dame, die neben ihnen steht und ebenfalls eine weiß-flackernde Trauerkerz­e in der Hand hält, nickt. „Ich bin Polin“, sagt sie resolut und zieht die grüne Baseballka­ppe über den weißen Stoppelhaa­ren herausford­ernd in den Nacken. „Ich habe schon einmal für Polens Freiheit gekämpft. In den 1970er- und 1980er-Jahren. Heute würde ich den Jungen sagen: „Geht! Verlasst Polen. Meinen Segen habt ihr!“Anna und Tomek schauen sie zweifelnd an. „Ja, ja“, sagt die 73-Jährige und zeigt auf die Bühne. „Wladyslaw Frasyniuk hat schon in der Volksrepub­lik für seinen Widerstand im Gefängnis gesessen. Er und wir – wir werden das wieder in Ordnung bringen! Und dann könnt ihr zurückkomm­en.“

In die Menge gerät Bewegung. Polizisten bahnen sich den Weg nach vorne zum Präsidente­npalast. Dort ruft der berühmte Bürgerrech­tler aus Wroclaw (Breslau) den Demonstran­ten zu: „Wir müssen die Gerichte verteidige­n. Wir müssen die Richter verteidige­n. Und deswegen werden wir jetzt – jetzt sofort – zum Obersten Gericht marschiere­n.“Das Mikro trägt seine Stimme über die gesamte Vorstadtst­raße. „Und ab morgen werden wir jeden Tag diese Institutio­n des Rechts verteidige­n. Wir alle, alle Staatsbürg­er Polens, werden ab morgen den Rechtsstaa­t vor den Gerichten im ganzen Land verteidige­n!“

Kampf für die EU

Auf den Treppenstu­fen einer Kneipe sitzen Andrzej und seine Frau Izabella. Er ist Bankangest­ellter, sie Krankensch­wester, beide Mitte 30. „Woher dieser Mann seine Energie nimmt! Das ist unglaublic­h“, sagt Andrzej, starrt auf die hell erleuchtet­e Bühne. Izabella hält die weiß-rote polnische und die blaue EU-Fahne umklammert. Es ist kurz vor Mitternach­t. „Wir wollen nicht aus der EU gedrängt werden“, wiederholt sie einen Satz, der an diesem Abend immer wieder durch die Straßen Warschaus schallt. „Bloß kein Polexit!“Andrzej wischt sich den Schweiß von der Stirn: „Wir sind immer noch zu wenig. Wenn die PiS auch die nächsten Wahlen gewinnt, was dann?“

Am Freitagabe­nd stimmt Präsident Duda schließlic­h einem Gespräch mit der Ersten Vorsitzend­en des Obersten Gerichts für Montag zu.

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FOTO: DPA Die umstritten­e Justizrefo­rm treibt viele Polen auf die Straße.

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