Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Riesenvorsprung für den kleinen Schwaben
Der Kugelstoßer Niko Kappel wird Para-Weltmeister – und spricht von einer Bevorzugung der Behinderten
(SID/sz) - Der WM-Titel mit Sahnehäubchen begeisterte auch die japanischen Journalisten: Niko Kappel musste dem asiatischen TVTeam nach seinem Gold-Rekordstoß von London in der Mixed Zone noch lange Rede und Antwort stehen. Doch selbst die Erklärung auf Englisch, warum er den Spitznamen „Bonsai“trage, ging Kappel an einem denkwürdigen Abend im Londoner Olympiastadion spielend über die Lippen.
Und von wegen Bonsai. Der 22-Jährige aus Sindelfingen, ein 1,34 Meter großer, 70 Kilo schwerer Kleinwüchsiger, wuchs bei der Para-Leichtathletik-WM über sich hinaus und dominierte zehn Monate nach den Paralympics in Rio nun auch den Kugelstoß-Wettbewerb an der Themse. „Weltmeister? Das hört sich schon super an, das hatte ich bis jetzt ja noch nicht“, sagte Kappel freudestrahlend und meinte nach seinem neuen Weltrekord: „Ich habe jetzt schon wieder Bock auf die nächste Saison.“13,81 Meter stieß er, drei Zentimeter weiter als seine beste Marke bisher und ebensoweit wie vor drei Wochen in Biberach, als der Rekord aber aufgrund der fehlenden Anmeldung des Meetings vom Paralympischen Kommitee nicht anerkannt worden war.
In einer langen Partynacht feierte der Schwabe mit Freundin Luisa, seinen Eltern und ein paar Teamkollegen um Speerwurf-Bronzemedaillengewinner Mathias Mester den Erfolg. Dass Kappels größter Rivale, Polens Ex-Weltmeister Bartosz Tyszkowski, aus unbekannten Gründen nicht am Start war, schmälerte den Sieg des sympathischen Blondschopfs kaum. Mit riesigem Vorsprung holte sich Kappel vor dem Briten Kyron Duke (12,28) und Zhiwei Xia (11,86) aus China Gold, und es könnte nicht das letzte gewesen sein: „Technisch habe ich noch großes Potenzial“, sagt er.
Mit dem Doppelsieg von Rio und London wird Kappel, der für die CDU im Stadtrat von Welzheim sitzt, 15 Studen die Woche in der ortsansässigen Kreisparkasse als Bankkaufmann arbeitet und damit eine Art Halbprofi ist, weiter in den Fokus rücken. Und das ist gut so. Ob in TV-Talkshows oder beim Plausch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel – Kappel hat bereits bewiesen, dass er trotz seines jungen Alters schon ein Aushängeschild des Behindertensports darstellt. 2016 bekam er das Silberne Lorbeerblatt von Bundespräsident Joachim Gauck und wurde als Wahlmann bei der Kür Frank-Walter Steinmeiers berufen.
„Niko ist ein wunderbarer Botschafter. Er ist sympathisch, charmant und hat große menschliche Qualitäten“, schwärmte Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes, von seinem „Außenminister“.
Kappel ist einer, der über den Tellerrand hinausblickt. Zum Beispiel in Sachen Inklusion. „Da sehe ich eine zunehmend falsche Entwicklung, nämlich eine zur Bevorzugung der Behinderten“, mahnte er an: „Wenn ich sehe, was ich als Kleinwüchsiger alles für Vorteile haben könnte, das ist für mich keine Gleichstellung. Egal, ob im Berufsleben oder im Sport. Inklusion bedeutet aber Gleichstellung.“
Kappel selbst trainiert in einer integrativen Gruppe beim VfL Sindelfingen mit Coach Peter Salzer sowie unter anderem Tobias Dahm und Lena Urbaniak, die beide schon deutsche Kugelstoß-Hallenmeister wurden.
Gegen die Sonderbehandlung
Neulich stand Kappel am Flughafen in Berlin vor der Sicherheitsschleuse. Ein Rollstuhlfahrer kam von hinten und fuhr komplett an der Schlange vorbei. Kappel machte sich so seine Gedanken, „weil keiner von den 40 Leuten etwas gesagt hat“. Wenn nur einer von den „Überholten“Personalverantwortung in einer Firma habe, „dann wird er beim nächsten Einstellungsgespräch mit einem Rollstuhlfahrer genau dieses Bild vor Augen haben: Rollstuhlfahrer bedeutet Sonderposition.“
Was nach Meinung von Kappel zur Folge hat, dass in den Hintergrund rücke, was der Bewerber fachlich wirklich drauf habe. „Aber eigentlich sollte es nur darum gehen, ob einer für den Job geeignet ist – oder eben nicht.“
Er selbst verfährt nach dem Motto: „Ich werde kein Basketballer mehr. Aber der Brillenträger wird auch kein Kampfpilot.“Sprich: Jeder hat Vorund Nachteile, sollte gleich behandelt werden – und aus seinen Talenten das Beste machen. Niko Kappel hat an einem böigen Donnerstagabend in London einen weiteren Schritt getan, damit seine Botschaft erhört wird.