Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Reifeprüfung für das Wunderkind
Hoffenheims Trainer Julian Nagelsmann, ab Sonntag 30, steht vor einer prägenden Saison
- Wenn man wissen will, wieso ein Mensch so geworden ist wie er ist, sollte man sich seine Kindheit anschauen. Beim Hoffenheimer Julian Nagelsmann, dem jüngsten Trainer der Fußball-Bundesliga, war sie relativ kurz: „Ich hatte nicht viel Zeit, jung zu sein“, sagte er einmal der „FAZ“. „Wegen des Fußballs bin ich früh von zu Hause ausgezogen, von da an musste ich für mich selbst sorgen: Kochen, Einkaufen, all das, was man normal mit 19, oder 20 macht, habe ich schon mit 15 erledigen müssen. Mit 20 starb mein Vater, danach habe ich meine Familie unterstützt und Aufgaben erledigt, die für mein Alter eher untypisch waren: das Haus verkaufen, ein neues Haus suchen für meine Mutter.“
Ähnlich rasant ging das Leben des gebürtigen Landsbergers weiter: Mit 20 war er als Spieler beim FC Augsburg II bereits Sportinvalide, Knorpelschaden im Knie. Nagelsmann wurde einer der Assistenten von Trainer Thomas Tuchel, über 1860 München landete er bei der TSG Hoffenheim, wo er mit 23 die U17 übernahm und mit 25 die U19, mit der er prompt Meister wurde. Zwischendurch war Nagelsmann auch mal Co-Trainer der Profis, und mit 28 jüngster Chefcoach aller Zeiten. Die Spieler passten sich dem Rekordtempo des Neuen an: Binnen 16 Monaten führte Nagelsmann die Badener, die sich als 17. mit ihrem FünfPunkte-Rückstand zum rettenden Ufer schon beinah mit einem Zweitligadasein abgefunden hatten, von Platz 17 zum Klassenerhalt – und dann auf Platz vier. Schafft es Hoffenheim in vier Wochen tatsächlich, in die Champions League einzuziehen, es wäre das Meisterstück des Wunderknaben.
Als der gilt Julian Nagelsmann noch immer. Auch wenn der passionierte Motoradfahrer am Sonntag reife 30 wird, blickt die Fußballwelt mit Erstaunen auf die interdisziplinären und multimedialen Methoden, mit denen Nagelsmann die Szene aufmischt, und freut sich darüber, dass sie der Jungspund auch noch so eloquent und erfrischend erklären kann. Nagelsmann ist mit seiner Art, bildhaft und frei Schnauze über den Fußball zu reden, zu einer Art Widergänger von Jürgen Klopp geworden – mit dem Unterschied, dass er eben auch zehn, 15 Jahre jünger ist als Klopp zu Sturm- und SINSHEIM Drangzeiten. Nagelsmann konnte am Freitag nur lachen, als er auf seinen Geburtstag angesprochen wurde. „Die Drei klingt schon sehr erwachsen“, sagte er. „Es ist aber nicht so, dass ich drei Tage durchfeiere oder in tiefe Depressionen verfalle. Man ist halt irgendwann geboren, und das Datum kommt jedes Jahr wieder.“Das hätte Klopp nicht schöner sagen können.
Nagelsmann hat die taktische Fußball-Revolution, die der Ex-Dortmunder und Derzeit-Liverpooler in Deutschland entfacht hat, weitergeführt, ja fast durchdekliniert mit der Art und Weise, wie penibel, detailversessen er entscheidende Szenen des Fußballs trainieren lässt. Die Übungen, mit denen er – wahlweise mithilfe einer Drohne, Videoleinwänden, Kopfhörern, Baugerüsten – sein Team taktisch zu schulen versucht und die an 31 Prinzipien orientiert sind (über die sich Nagelsmann in Schweigen hüllt), erinnern zuweilen an einen Regisseur beim Filmdreh. Die Spieler sind anfangs oft verwirrt, am Ende meist begeistert. „Nagelsmann legt den Fußball wie ein Baukastensystem an. Er nimmt das Spiel, zerlegt es in unterschiedliche Passagen und setzt sie nach und nach wieder zusammen“, sagt Stürmer Sandro Wagner. Serge Gnabry räumt ein, die „taktischen Einheiten“des Trainers seien der Grund für den Wechsel nach Hoffenheim gewesen. „Er ist eine Granate als Trainer, definitiv“, findet selbst Pirmin Schwegler, obwohl der Ex-Kapitän unter Nagelsmann nicht nur sein Amt, sondern auch seinen Stammplatz verlor und zu Hannover 96 abwanderte.
Taktik mache vierzig Prozent des Erfolgs aus, der Rest sei Teamführung, sagt Nagelsmann, der selbst mit einem Coach arbeitet und mit zarten 29 von manchen bereits für ministrabel gehalten wird. Für einen also, der auch die großen Ämter des Weltfußballs ausfüllen könnte. Bundestrainer Joachim Löw hält ihn für einen potentiellen Nachfolger, der FC Bayern hofft offenbar darauf, seinen fälligen Umbruch bald mit dem Energiebündel aus Hoffenheim zu vollziehen, zumal der Bayer Nagelsmann sich auch als BayernFan outete. Der Kandidat selbst begegnet den Gerüchten mit feinem Spott: „Ich bin im Austausch mit Ralph Hasenhüttl und Thomas Tuchel. Wir einigen uns gerade, wer Trainer und wer Co-Trainer wird“, sagt Nagelsmann. Seinen Vertrag bei der TSG hat er kürzlich bis 2021 verlängert, auch, um ein Zeichen an die Spieler zu senden.
Tatsächlich: Die großen Tiefen im Trainerleben haben den Wunderknaben noch nicht ereilt. Auch die Bayern dürften gespannt sein, was Julian Nagelsmann dann einfällt, wie er Krisen moderiert, mit Problemen umgeht. Eines Tages könnten sich auch die Methoden Julian Nagelsmanns womöglich erschöpfen. Selbst ein gewisser Jürgen Klopp schaffte es am Ende seiner sieben BVB-Jahre, im Winter einmal mit einer überragenden Mannschaft Letzter der Tabelle zu sein.