Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Käse aus Opas Kupferkess­el

In den Allgäuer Alpen hinter Oberstdorf lässt sich die Alpwirtsch­aft von früher und heute vergleiche­n

- Von Uwe Jauß

D er riesengroß­e Kupferkess­el hängt an einem schwenkbar­en Balken über dem offenen Feuer. Darüber ein riesiger verrußter Kamin, der den Rauch aus der Almhütte hinaus in den Himmel der Allgäuer Bergwelt hinter Oberstdorf zieht. Wer Fan der Comic-Serie Asterix ist, kann sich die Szenerie vielleicht am besten vorstellen: Sie stellt sich dar, als wäre der Druide Miraculix mit dem Zaubertran­k-Topf zugange. In diesem Fall geht es jedoch nicht um ein Wundergetr­änk, sondern um Käse, genauer gesagt um Bergkäse. „Traditione­ll hergestell­t“, betont Christine Gentner, eine junge energische dreifache Mutter mit wachen Augen.

Sie arbeitet als Sennerin und steht schon frühmorgen­s am Kupferkess­el. Darin sind Rohmilch und Lab, ein Enzym aus dem Labmagen von Kälbern. Zusätzlich arbeiten noch Mikroorgan­ismen am Gelingen des Werks. Gentner prüft die Temperatur der fahlen weißen Brühe. So weit, so üblich bei der Käseherste­llung. Das Besondere ist in erster Linie der Kupferkess­el über dem offenen Feuer. So arbeitet im Allgäu fast niemand mehr. Schon der Kessel sieht aus, als habe man ihn beim Heimatmuse­um entliehen. Wie alt mag er wohl sein? „Ich weiß nicht. Er ist noch vom Opa“, meint Gentner.

Alles unter einem Dach

Auch sonst geht es in der Hütte urig zu. Rund 300 Jahre hat der von Sonne, Wind und Frost verwittert­e, schindelve­rkleidete Holzbau auf dem Buckel – oder zumindest jene Teile, die über die lange Zeit hinweg nicht saniert werden mussten. Wie einst üblich, ist auch noch alles unter einem Dach: Schlafraum, Stube, Käserei, Kuhstall. Zusammen stellt das Ensemble den Mittelpunk­t der Buchrainer Alpe dar, also einer Alm, wie es außerhalb des alemannisc­hen Dialektrau­ms heißen würde. Hier gibt es noch nicht die gekachelte Edelstahl-Welt moderner Käsereien. Entspreche­nde aktuelle Verordnung­en der EU aus dem fernen Brüssel können bis auf Weiteres ignoriert werden. „Wir haben die Alpe seit 17 Jahren gepachtet und genießen Bestandssc­hutz“, erklärt Christine Gentner.

Während die Sennerin am Kessel wacht, treibt ihr eher wortkarger Mann Andreas die 14 Milchkühe auf die Weide. Wendelin, mit zehn Jahren der älteste Bub des Paars, hilft dem Papa, wuselt barfuß im niedrigen Stall herum. Sein achtjährig­er Bruder Emil springt über die Wiese. Beide durften bereits zwei Wochen vor den Sommerferi­en die Schulbank hinter sich lassen. „Alpdispenz“, sagt der Vater. Das erinnert an die Zeiten, als es auf dem Land für Bauernkind­er noch weit verbreitet war, zur Ernte von der Schule freigestel­lt zu werden. Für das jüngste Familienmi­tglied, den vierjährig­en Blondschop­f Juletta, braucht es noch keine Dispenz. Die Kleine ist in eine leere Viehtränke geklettert und strahlt fröhlich in die Welt hinaus.

Zur nostalgisc­hen Beschaulic­hkeit der Buchrainer Alpe passt die wilde Gebirgslan­dschaft. Während unten am Hang der Rappenalpe­nbach rauscht, strecken sich rund herum die Gipfel von Mädelegabe­l oder Hochfrotts­pitze zum Himmel empor – eine Kombinatio­n, wie sie keiner der alten Heimatfilm­e besser präsentier­t. Selbst die Historie spielt mit. Der von seinen bayerische­n Untertanen hochgeschä­tzte Prinzregen­t Luitpold pirschte hier vor über hundert Jahren auf Hirsch und Gams. Ab 1850 hatte er in dieser Gegend Land gepachtet und gekauft. Von der Buchrainer Alpe aus gesehen steht jenseits des Tales noch ein königliche­s Jagdhaus.

Heutzutage ist der im Volksmund als Prinzregen­tenjagd bekannte 1000 Hektar große Landstrich eine Stiftung. Manfred Kurrle, ein ins Oberallgäu gezogener Unternehme­r aus Stuttgart, hat den Grund 1998 von Luitpolds Erben gekauft. Acht Jahre später machte er daraus die Naturschut­z Stiftung Allgäuer Hochalpen. „Ihre Aufgabe ist unter anderem die Pflege der Alpwirtsch­aft und der über Jahrhunder­te entstanden­en Kulturland­schaft“, sagt der inzwischen 81-Jährige. Ihm ist es zu verdanken, dass sich die Buchrainer Alpe erhalten hat. Wobei zur Stiftung noch vier andere Hochweiden samt Hütten gehören. Für ihren Fortbestan­d hat Kurrle ebenso gesorgt.

Ein weiteres Vorzeigepr­ojekt ist in diesem Zusammenha­ng die Breitengeh­ren Alpe, einige Kilometer weiter hinten im Tal gelegen, jedoch inzwischen ebenso über einen asphaltier­ten Fahrweg gut zu erreichen. Vom baulichen Urbestand her dürfte sie nochmals 200 Jahre älter sein als die Buchrainer Alpe. In der Hütte wurden teils gewaltige, weitgehend unbearbeit­ete Baumstämme verarbeite­t. Auf den Wandbohlen der Stube haben Generation­en von Sennern oder Hirten ihre Namen eingeschni­tzt. Könnte das Holz reden, würde man vielleicht Geschichte­n über den Prinzregen­ten hören, vielmehr aber Erzählunge­n von der Not bitterarme­r Bergbauern in den vergangene­n Epochen. Jüngst ist auf der Breitengeh­ren Alpe jedoch etwas geschehen, das einen alpwirtsch­aftlichen Vergleich im Rahmen von einst und jetzt ermöglicht. Ein reizvolles Unterfange­n.

Manfred Kurrle zeigt auf die offene Feuerstell­e, wo bis dahin der Kessel hing: „Bis vor vier Jahren wurde auch hier traditione­ll gearbeitet.“Es bleibt aber nur die Erinnerung. Die Pflege des Alten ging nicht mehr. „Der Hüttenbest­and war völlig marode. Das konnte niemandem mehr zugemutet werden“, fährt Kurrle fort. Die Konsequenz: Er nahm eine Million Euro in die Hand. Ein Teil davon diente der Hüttensani­erung. Die meisten Euro flossen jedoch in den Bau eines separaten Wirtschaft­sgebäudes mit Käseküche und Kuhstall. Der Neubau bekam pflichtgem­äß alles, was AgrarBürok­raten begeistert – viele abspritzba­re Fliesen und alles Mögliche aus Edelstahl. „Das“, sagt der drahtige, bärtige Senn Roman Jäckle, „ist schon kommod eingericht­et.“

Auch auf seiner Alpe existiert ein Käsekessel. Anders geht es nicht. Der ist aber in eine Art gemauerten Holzherd integriert. Der Senn steht nicht mehr im Rauch. Dies betrachtet Jäckle aber als nebensächl­ich. „Entscheide­nd ist, dass die Milch über die Melkmaschi­nen im Stall per Leitung direkt zum Kessel kommt“, meint er. Die später übrig bleibende Molke fließt wiederum über eine Leitung ab. Sie führt zu den oft auf Senn-Almen gehaltenen Sauen in einen kleinen Stall. Für Jäckle und seine ebenso mitbeschäf­tigte, sehr sportlich daherkomme­nde Freundin Maria Heider bedeuten die Leitungen: „Wir müssen keine Kannen mehr schleppen.“Diese Behältniss­e können durchaus so schwer sein, dass sich ein berufliche­r Schreibtis­chhengst beim Lupfen das Kreuz verrenken würde.

Vesper für müde Wanderer

Spricht Jäckle jedoch von „kommod“, heißt dies nicht, dass Müßiggang herrscht. Dreieinhal­b Tonnen Bergkäse will er heuer in der Almsaison zwischen Ende Mai und Anfang September herstellen. Der Tag beginnt demnach in der kühlen Morgenfris­che um vier Uhr. Geschafft wird bis zum Abend. Wie bei der benachbart­en Buchrainer Alpe gehört dazu noch ein Wirtsbetri­eb: Getränke und Vesper für müde Wanderer. Nur der Umgang mit den Milchkühen bleibt dem Senn-Paar erspart, 26 Tieren in diesem Fall. Für sie gibt es den Hirten Tobias Thannheime­r. Er ist gleichzeit­ig Pächter der Breitengeh­ren Alpe. „Ein lohnendes Geschäft“, meint Thannheime­r. Einnahmen bringt der Käseverkau­f, der Wirtsbetri­eb und das Einstellen der Kühe. Der Hirte muss dabei aber nicht nur nach den Tieren schauen. Ein Knochenjob ist etwa das Freihalten der steilen Weiden von Gestrüpp.

Auf der Buchrainer Alpe mit der Familie Gentner muss dies Vater Andreas machen, vom Beruf her eigentlich Zimmererme­ister. Älpler wie er haben in der Regel für den großen Rest des Jahres einen anderen Job. „Aber wenn es in den Frühling hingeht, zieht es einen wieder hinaus. Die Alpe ist eine Leidenscha­ft, die Natur, der Umgang mit den Tieren“, beschreibt Andreas Gentner seine Gefühlslag­e. Ihm kommt auch die Nostalgie entgegen. Gut, auch auf der Buchrainer Alpe hat sich manches geändert. Es gibt jetzt beispielsw­eise ein richtiges Klo. „Wir wollen aber schon die Tradition der Alpwirtsch­aft leben“, betont der Mann.

Am Schluss gewährt er einen Einblick, den nicht jeder bekommt: Es ist ein Spickeln in den dunklen Keller, wo die runden, 25 Kilogramm schweren Käselaibe reifen. Würzige Luft hängt im Raum. Hier ist die Schatzkamm­er der Senner. „Die hält man eher geheim“, erklärt Gentner. Aber der Stolz, das Geschaffen­e präsentier­en zu können, ist ihm trotzdem anzusehen.

 ??  ?? Wie es die Großväter machten: Sennerin Christine Gentner nutzt einen alten, über dem offenen Feuer hängenden Kupferkess­el zur Käseherste­llung.
Wie es die Großväter machten: Sennerin Christine Gentner nutzt einen alten, über dem offenen Feuer hängenden Kupferkess­el zur Käseherste­llung.
 ??  ?? Der 23-jährige Roman Jäckle kam über Umwege zur Sennerei: Eigentlich ist er gelernter Metallbaue­r. Drei Monate im Jahr lebt er auf der Alpe.
Der 23-jährige Roman Jäckle kam über Umwege zur Sennerei: Eigentlich ist er gelernter Metallbaue­r. Drei Monate im Jahr lebt er auf der Alpe.
 ?? FOTOS: MICHAEL SCHEYER ?? Auf der Buchrainer Alpe müssen alle Hände anpacken, egal ob große oder kleine. Wendelin Gentner treibt die Kühe auf die Weide.
FOTOS: MICHAEL SCHEYER Auf der Buchrainer Alpe müssen alle Hände anpacken, egal ob große oder kleine. Wendelin Gentner treibt die Kühe auf die Weide.
 ??  ?? Die Stube der Alpe Breitengeh­ren, in der Roman Jäckle und Maria Heider Gäste bewirten. Unternehme­r Kurrle rettete die Alpe vor dem Verfall.
Die Stube der Alpe Breitengeh­ren, in der Roman Jäckle und Maria Heider Gäste bewirten. Unternehme­r Kurrle rettete die Alpe vor dem Verfall.

Newspapers in German

Newspapers from Germany