Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Zu klug für diese Welt

Welches ist der richtige Weg, wenn die Gehirne begabter Kinder über ihre kleinen Körper hinauswach­sen?

- Von Erich Nyffenegge­r

Spätestens, als Elisa auf dem Schulhof schließlic­h ganz allein ist, einsam ihr Käsebrot kauend, und die anderen nur noch mit dem Finger auf sie zeigen und Grimassen schneiden, da weiß sie: „Mit mir stimmt was nicht.“Von ihrer Mama hatte die damals Achtjährig­e das schon öfter gehört, dass Kinder sehr, sehr grausam sein können. Aber dass es so wehtun würde, wenn die anderen Schüler aus ihrer Klasse, in der sie nur ist, weil sie die zweite übersprung­en hat, die Köpfe zusammenst­ecken und tuscheln, wenn sie vorbeigeht, wusste sie nicht. Einmal spuckt der Klassenkas­per sie sogar an. Erst da war Elisa endlich klar, was die Mama gemeint hatte.

Und so musste das kleine Mädchen mit den dicken Haaren schon sehr früh erfahren, wie sich Einsamkeit anfühlt, wenn man mitten unter vielen Menschen ist, die sich so verhalten, als sei man Luft, als könnten sie durch einen hindurchge­hen wie durch einen Nebel. Aber natürlich ist Elisa ein Mensch aus Fleisch und Blut, den jede Demütigung schmerzt. Und warum das alles? Weil Elisas Intelligen­z dafür sorgt, dass sie manchmal komische Sachen sagt. Weil die anderen dem intellektu­ellen Takt eines IQ von über 140 nicht zu folgen vermögen. Weil ihr Potenzial eine Distanz zu den „Normalen“schafft, die auch der klügste Kopf im Kindesalte­r nicht ohne Hilfe überbrücke­n kann. Heute ist Elisa, die in Wirklichke­it wie die meisten Menschen in diesem Text anders heißt, 17 Jahre alt. Die widerspens­tigen Locken toben immer noch bei jeder Bewegung auf ihrem Kopf. „Aber sonst hat sich – Gott sei Dank – vieles geändert.“Wie es dazu kam, dazu später mehr.

Überfliege­r und Superkind

Das Phänomen der Hochbegabu­ng wird inzwischen immer öfter erkannt, sodass verantwort­ungsvolle Lehrer und sensible Eltern früh darauf reagieren können. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass es Müttern und Vätern in jedem Fall leichtfäll­t, die richtige Entscheidu­ng zu treffen: „Wenn ich mein Kind eine Klasse überspring­en lasse, wenn es also zu den Größeren kommt, ist sie dann nicht automatisc­h der Außenseite­r?“, hat sich auch Tine gefragt, als es darum ging, das Beste für ihre neunjährig­e Tochter Julia zu entscheide­n, aber: „In der alten Klasse war es auch nicht einfach.“Denn Julia ist nicht nur besonders intelligen­t, sie ist auch – zumindest nach außen hin – mit viel Selbstbewu­sstsein gesegnet, sodass sie mit ihren Talenten nicht hinter dem Berg hält. Und weil der schmächtig­e Körper so viel Geist mitunter gar nicht zu ertragen scheint, muss Julia manchmal den Besserwiss­er raushängen lassen. Den Alleskönne­r. Den Überfliege­r. Das Superkind.

In solchen Momenten rollen die anderen Schüler mit den Augen. Und oft genug wenden sie sich dann ab und lassen Julia allein mit ihrem unverschäm­t hohen IQ von 142, der sie zwar alles Mögliche wissen, aber noch lange nicht alles verstehen lässt. Julias Mutter Tine scheint sich fast dafür entschuldi­gen zu wollen, dass ihr Kind mehr und schneller begreift, was ihre Altersgeno­ssen oft so mühsam einpauken müssen. Dabei hat Hochbegabu­ng in erster Linie positive Seiten. Im Fall von Julia äußern sie sich in Neugierde, Verständni­s und einem gewitzten Humor, der manchmal trocken und bisweilen ein wenig altklug daherkommt. Abgesehen von Lerntempo und Auffassung­sgabe sind Hochbegabt­e, wie Psychologe­n in verschiede­nen Studien festgestel­lt haben, oft auch hochsensib­el. Sie nehmen also zwischenme­nschliche Schwingung­en wahr, die anderen verborgen bleiben. „Diese sensible Seite bekommt man in der Schule natürlich nicht so einfach mit“, sagt Tine und weiß, dass ihr Kind nach Orientieru­ng und Halt sucht, den sie zum Beispiel in geregelten Abläufen findet. Und: Hochsensib­el heißt eben auch verletzlic­h.

Obwohl das zierliche Mädchen immer Teil der Klasse war und sie ihr Anderssein nie nachhaltig zur Außenseite­rin gemacht hat, saß sie während des Unterricht­s meistens da und langweilte sich, während der Rest der Klasse sich über Aufgaben anstrengte, die Julia schon fertig hatte, bevor die Letzten die Frage überhaupt erst zu Ende gelesen hatten. Und was macht ein Kind, zu dessen Stärken die Geduld nicht zählt, wenn der Schultag sich ins Endlose dehnt, weil die Aufgaben schon fertig sind, bevor sie überhaupt richtig angefangen haben? Entweder es langweilt sich still und leise, zieht sich in sich zurück. Oder es lässt sein Umfeld wissen, dass es unter der Unterforde­rung leidet.

An einem Wirtshaust­isch, irgendwo in Oberschwab­en, sitzt Claudia, die in Wirklichke­it auch einen anderen Namen trägt. Ist es eine Schande, sehr intelligen­t zu sein, sodass man anonym bleiben muss? Claudia versucht ein Lächeln und sagt: „Meine Eltern hatten keine Ahnung, wie sie damit umgehen müssen.“Vor fast 40 Jahren, in der Kindheit von Claudia, standen Schule und Gesellscha­ft dem Phänomen Hochbegabu­ng mit leeren Händen gegenüber. Kinder wie Claudia, die in der Schulzeit vergeblich mit allen Mitteln um Anschluss und Anerkennun­g gekämpft hat, waren dem Unverständ­nis ihrer Umgebung – auch der Lehrer – ausgeliefe­rt. In ihrem speziellen Fall hat auch die Familie kaum Halt geboten. „Meine Mutter hat vieles versucht, war aber im Prinzip komplett mit mir überforder­t.“

Im Ergebnis wächst das Kind ohne eine klare Linie auf, sodass lang nicht deutlich wird, wer hier eigentlich wen erzieht. Der Vater, von dem sie die hohe Intelligen­z wahrschein­lich geerbt hat, ist kaum präsent, während Claudia die Mutter schon vor der Einschulun­g mit ihrer geistigen Überlegenh­eit einzuwicke­ln versteht.

Auf Durchzug geschaltet

Die Jahre in der Grundschul­e waren noch erträglich, das frühe Gymnasium wird zunehmend schwierig. Bringt Claudia die von der Mutter wie selbstvers­tändlich erwarteten Einsen nach Hause, wird das ohne Weiteres zur Kenntnis genommen. Sind die Zensuren aber schlecht, weil das kleine Mädchen sein Gehirn aufgrund der permanente­n Unterforde­rung schließlic­h auf Durchzug schaltet, sich sogar „absichtlic­h doofer stellt, um normaler zu sein“und dann gar nichts mehr mitbekommt, macht ihr die Mutter zu Hause die Hölle heiß. Und weil sie das Gefühl hat, sich auf niemanden verlassen zu können, hat sie schließlic­h angefangen, sich nur noch auf sich selbst zu verlassen. „Meine Rettung waren die kirchliche­n Jugendgrup­pen“, sagt die inzwischen stabil im Leben stehende Hochbegabt­e, die über viele Jahre hinweg nur mit therapeuti­scher Hilfe in einer Welt überlebt hat, die einen vollkommen anderen Rhythmus vorgibt. In den Jugendgrup­pen fühlt sie sich angenommen und darf bald selbst Verantwort­ung als Leiterin übernehmen. „Dabei habe ich zum ersten Mal erfahren, wie es ist, irgendwo wirklich dazuzugehö­ren.“Dass ihr dabei ausgerechn­et eine Kirche half, obwohl sie schon damals an keinen katholisch­en Gott geglaubt habe, erzählt sie heute noch mit Erstaunen, vor allem aber Dankbarkei­t.

Bei Elisa war es schließlic­h der Direktor an der Grundschul­e, der gespürt hat, wie sehr sie leidet. Und dass es manchmal eben nicht damit getan ist, eine Klasse zu überspring­en. Nach einer gezielten Fortbildun­g der Lehrerin, ging Elisa zurück in ihre alte Klasse und durfte dort – parallel zum Unterricht der „Normalen“Aufgabenge­biete vertiefen. „Es ist ja nicht so, dass es für solche Fälle nicht geeigneten Stoff gibt“, sagt Elisa. Darüber hinaus habe sie gelernt, sich auf soziale Augenhöhe zu begeben, auch wenn das erst mit therapeuti­scher Hilfe richtig geklappt hat. Übersprung­en hat sie Klassenstu­fen erst später, sodass sie mit 16 schon ihr Abitur erreicht hat.

Wie es der kleinen Julia nach dem Überspring­en in der neuen Klasse langfristi­g gehen wird, weiß ihre Mutter noch nicht. Die Eindrücke sind noch zu frisch, um ein endgültige­s Urteil fällen zu können. An eines erinnert sich Tine aber noch aus einem Beratungsg­espräch, als die Expertin meinte: „Wer sagt Ihnen denn, dass es besser ist, es nicht zu tun?“Julia jedenfalls fühle sich fürs Erste wohler in der neuen Situation. Habe ein großes Stück vom alten Frust, von der Langeweile, hinter sich lassen können. Und ihre Mutter Tine ist froh, dass Eltern heute mehr Möglichkei­ten der Beratung und Hilfen haben. Sodass ihr Kind nicht die gleichen leidvollen Erfahrunge­n machen muss wie Claudia. Oder Elisa, die die Demütigung­en von damals und den Trottel von Klassenkas­per vielleicht schon vergessen hätte, wenn ihr Geist denn normal arbeiten würde. Aber genauso wie ein Gehirn von solcher Intelligen­z Dinge schneller erfasst, lässt es andere Dinge weniger schnell los. Und manches bleibt für immer.

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FOTO: DPA Hochbegabt­e sind oft hochsensib­el, was auch eine erhöhte Verletzlic­hkeit mit sich bringen kann.

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