Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Egal was wir wollen, wir werden wachsen“
Bürgermeister Bruno Walter spricht über die Auswirkungen des Bevölkerungswachstums auf Tettnang
TETTNANG (hil/ari) - Bevölkerungszuwachs, mehr Verkehr, wenig Kindergartenplätze: Die Stadt Tettnang steht vor großen Herausforderungen. Mark Hildebrandt und Anja Reichert haben sich mit Tettnangs Bürgermeister Bruno Walter darüber unterhalten, wie Lösungen aussehen könnten. Und auch darüber, warum sozialer Wohnungsbau ein so schwieriges Feld ist.
Bürgermeister Walter, die Bevölkerung wächst. Wo will Tettnang hin? Soll es Stadt werden oder Städtle bleiben?
Ich glaube, dass die Stadt im Gefühl der Menschen immer ein Städtle bleiben wird. Und das ist gut so. Dennoch haben wir als flächengrößte Stadt im Bodenseekreis auch Potenziale. Wobei man da aufpassen muss: Wir haben auf der einen Seite die Wohn- und Gewerbesituation, auf der anderen Seite die Landwirtschaft. Wir müssen hier mit Augenmaß vorgehen. Es wird jedoch angesichts der vorhandenen Freiflächen und des Wachstums in der gesamten Region weiter nach oben gehen. Ich bin mir deshalb sicher, wir werden die 20 000-Einwohner-Grenze reißen. Und das wird eher früher als später kommen.
Wann schätzen Sie, wird das passieren? Und was bedeutet das für Tettnang?
Wann das genau kommen wird, weiß ich nicht. Aber egal, was wir wollen, wir werden wachsen: Wir haben zwischen 2005 und 2015 ein Wachstum von 6100 auf 8900 Arbeitsplätze erlebt. Es gibt Gewerbeflächen, die im Lauf der Jahre in Verwertung kommen werden. Darüber hinaus gibt es Überlegungen, im gewerblichen Bereich zusätzliche Flächen auszuweisen. Es gibt Wohnbauentwicklungen mit den Gebieten Leimgrube III, mit dem Ramsbach-Quartier, mit der Ackermann-Siedlung. Im St. Anna-Quartier werden 130 Wohnungen entstehen. Und wir diskutieren über eine Entwicklung im Bereich der Diakonie Pfingstweid. Dazu erleben wir in den Ortschaften, aber auch in der Kernstadt, eine Verdichtung in den Innenbereichen.
Welche Antworten liefert das Integrierte Stadtentwicklungskonzept (Isek)?
Isek hat uns in wichtigen Teilbereichen etwas mehr Klarheit verschafft. Dennoch ist es für mich so, dass es einige Aspekte nicht abschließend abdeckt. Es regelt beispielsweise nicht, wie das soziale Leben in der Stadt aussieht. Genau vor dem Hintergrund wollen wir uns sowohl innerhalb der Verwaltung als auch mit den politischen Gremien auf den Weg begeben, aus dem Isek in eine kommunale Gesamtstrategie zu kommen, die auch das Zusammenleben in der Stadt beinhaltet. Wenn ich soziale Stadt sein will, heißt es, dass das Zusammenleben zwischen Menschen aller Ebenen, jeden Alters, jeder Staatsangehörigkeit, jeden Geschlechts funktionieren muss.
Wie kann man angesichts der hohen Grundstückspreise sicherstellen, dass sich auch junge Familien mit Kindern und Normalverdiener in Tettnang ansiedeln können?
Wo ich normal über Herausforderungen rede, rede ich hier über ein Problem. Eine Kommune, die sich zum Ziel gesetzt hat, auch preisgünstigen Wohnungsraum anzubieten, hat es angesichts der Grundstückspreise extrem schwer. Eine Idealkonstellation ist beispielsweise St. Anna, wo die Kirchengemeinde entschieden hat: Wir werden unserer sozialen Verantwortung gerecht und stellen dieses Grundstück für sozialen Wohnungsbau zur Verfügung. In anderen Gebieten muss man die Hoffnung haben, dass Investoren langfristig planen und dadurch bei der Rendite nicht an die oberste Grenze gehen müssen. Eine Alternative wäre etwa eine Wohnungsbaugenossenschaft. Wir waren da mit Meckenbeuren im Gespräch. Aber da stößt man ganz schnell an Grenzen und würde am Anfang unendlich Verluste schreiben. Die einzige Möglichkeit aus meiner Sicht: Bund und Land müssen sich dafür entscheiden, sozialen Mietwohnungsbau wieder mit Steuervergünstigungen zu fördern.
Die Kindergärten sind jetzt schon voll, ebenso die Schulen ...
Die Wohnungen entstehen ja nicht von heute auf morgen. Wir haben nächste Woche intern eine große Runde unter anderem zum Kindergartenbedarfsplan, weil wir im Herbst in der Klausurtagung des Gemeinderates diese Fragen näher beleuchten wollen. Wir wissen, dass im Bereich der kirchlichen Kindergärten der Loreto-Kindergarten von der Bausubstanz so schlecht ist, dass er nicht mehr saniert werden kann. Da wird es einen größeren und um zusätzliche Gruppen ergänzten Neubau geben. Gleichzeitig müssen wir die Situation in Kau sehr genau beobachten. Und wir suchen einen Standort in der Kernstadt. Wir werden 2018 nach meiner Einschätzung definitiv in die Richtung Neubau von Kindertagesstätten gehen.
Es hat immer wieder auch Forderungen gegeben, die Jugend stärker einzubinden: Wie stehen Sie zur Schaffung der Stelle eines Jugendreferenten?
Wir spüren, dass wir uns nahe der 20 000-Einwohnergrenze über neue Strukturen auch innerhalb der gesamten Verwaltung Gedanken machen müssen. Der Jugendbereich ist nur ein Teil. Da gehören auch noch andere Bereiche und auch eine weitere Frage dazu. Wie ist die Belastung des Bürgermeisters und damit die Aufgabenverteilung an der Verwaltungsspitze? Ist das jetzige System, nur der Bürgermeister und darunter die drei Geschäftsbereiche, generell noch tragfähig? Das müssen wir insgesamt überdenken. Müssen wir eine Beigeordneten-Stelle schaffen? Wenn ich da auch mal die eigene Belastungskante sehe, dann weiß ich, was ich gerade mache und wo ich bereits heute zwingenden Bedarf sehe. Wenn Tettnang tatsächlich die 20 000-Einwohner-Grenze überschreitet, müssen wir uns auch damit auseinandersetzen, wie es mit dem Thema Große Kreisstadt aussieht.
Ab welcher Schwelle würde sich denn aus Ihrer Sicht die politische Entscheidung lohnen, diesen Schritt in Richtung Große Kreisstadt zu gehen?
Diese politische Frage muss der Gemeinderat beantworten. In dem Moment, wo Tettnang große Kreisstadt wird, kommen neue Aufgaben für die Verwaltung hinzu, die auch neue Personalressourcen bedingen. Dabei sind wir bereits jetzt, was die Platzsituation anbelangt, an der Obergrenze. Eine solche Entscheidung bedeutet in der Konsequenz aber auch, dass Tettnang nochmals eine andere Rolle in der Region spielen könnte. Auch das ist eine Frage, der man sich da durchaus stellen muss.
Wachstum heißt mehr Verkehr: Kann Tettnang das bewältigen?
Wenn ich in Tettnang sehe, dass wir das Problem haben, dass sich auf 150 Metern Luftlinie – im Bereich Wangener Straße, Martin-Luther-Straße und Lindauer Straße – die gesamte Ost-West- und die gesamte NordSüd-Achse kreuzen, dann weiß ich, dass das am Ende noch nicht die endgültige Lösung sein kann. Wenn wir das prognostizierte Wachstum in der Region sehen, muss im Verkehrsbereich auch mit ÖPNV, Radfahrern und Fußgängern ein Umdenken stattfinden. Wenn wir da nicht wirklich gute Konzepte entwickeln und die Menschen umdenken, dann werden wir das, was im Großraum Stuttgart Alltag ist, in einigen Jahren in der Region haben.
Welche Rolle kann denn da der ÖPNV spielen?
Mit der Überarbeitung des StadtbusKonzepts haben wir aus meiner Sicht den ersten Schritt in die richtige Richtung getan: Das beinhaltet zum einen die Anbindung der Ortschaften und zum anderen die Anbindung an den Bahnhof Meckenbeuren. Was für mich aber noch viel wichtiger ist: Es muss ein Umdenken in der Bevölkerung stattfinden. Das ist wie mit unserer Innenstadt, wenn jeder meint, er möchte am liebsten bis vor das Geschäft fahren. Die Qualität hängt nicht damit zusammen, wo ich mit dem Auto hinkomme, sondern damit, wo Atmosphäre und Aufenthaltsqualität bestehen.
Qualität liefert ja auch die Kultur. Dafür fehlt jedoch ein zentraler Ort. Ist der Aus- und Umbau der Aula eine Idee? Die Stadthalle hat ihre besten Zeiten hinter sich.
Es ist so: Die Stadthalle ist Vergangenheit, nicht die Zukunft. Wir brauchen eine neue Sporthalle, aber wir brauchen auch etwas für Veranstaltungen. Und im Bereich der Veranstaltungen sehe ich auch: Was Spectrum Kultur leistet, was viele Menschen in der Stadt ehrenamtlich leisten, ist sensationell. Ich glaube aber, dass es vermessen wäre, mit einer Oberschwabenhalle in Ravensburg oder mit einem GZH in Friedrichshafen konkurrieren zu wollen. Wir müssen Nischen nutzen. Ich sehe auch, dass wir da Räumlichkeiten schaffen müssen. Das muss auf dem Schirm bleiben. Aber die Pflichtaufgaben Kindertagesstätten und Schulen haben für mich derzeit Priorität.
Es gibt viele Herausforderungen und Hemmnisse: Hauptamtsleiter Schwarz ist längere Zeit ausgefallen. Stadtbaumeister Zöhler geht ...
Für mich war es spannend, dass der erste Gedanke bei den Mitarbeitern war: Wir haben Aufgaben, wir müssen sie lösen. Da war immer die Hoffnung in dem einen Fall: Die gesundheitliche Entwicklung verändert sich. Und das andere, wo man sagt, okay, es wird eine Nachfolge geben. Verantwortung verteilt sich auf andere Schultern. Aber ich selbst merke auch, dass ich an einem Punkt bin, wo ich sage, dass auch die Energie eines Bürgermeisters nicht endlos ist.
Diese Ereignisse haben auch Folgen: Immer wieder haben Gemeinderäte Kritik geäußert, dass Unterlagen fehlerhaft oder nicht vollständig waren.
Ich kann da eine gewisse Unzufriedenheit im politischen Gremium durchaus nachvollziehen. Für mich hat das mehrere Ursachen. Das eine ist sicher, dass die Anzahl der Projekte sehr hoch ist. Wenn man dann sieht, dass im Moment mit Mensa, Loretoquartier, Karlstraße und AU Hagenbuchen vier Millionenprojekte parallel laufen und dann auch noch eine Brücke Badhütten, dann ist das schon immens. Auf der anderen Seite gibt es durchaus Schwächen, wo wir – und darum auch die kommunale Gesamtstrategie – auch intern die Qualität verändern müssen. Die Einführung eines institutionalisierten Projektmanagements wird ein ganz wichtiger Schritt sein. Da sehen wir Handlungsbedarf.
Die Ortschaften, aber auch die Händler in der Karlstraße sagen, die Informationspolitik könne besser sein ...
Wenn man das Projekt Karlstraße sieht, hätten Informationen sicherlich vor Beginn der Baumaßnahme früher kommen können. Seit diese läuft, würde ich auch auf Basis der Rückmeldungen sagen, es läuft sehr gut. In den Ortschaften hat es eine gravierende Änderung durch die Änderung der Hauptsatzung gegeben. Dadurch haben die Ortschaftsräte nicht mehr die Möglichkeit, bei jedem Baugesuch im Detail mitzureden. Aus meiner Sicht kann das aber auch nicht das Ziel sein. Wo man sich schon Gedanken machen muss: Wäre es beim Isek nicht besser gewesen, die Ortschaftsräte in Bezug auf die Ortschaften anders mit einzubinden? Das sehe ich heute schon auch so. Aber im Wege der kommunalen Gesamtstrategie müssen wir für die gesamte Stadt, also auch die Ortschaften denken. Und da sehe ich eine große und ganz entscheidende Aufgabe für die Ortschaftsräte. Diese müssen sich intensiv Gedanken darüber machen, wie sich die Ortschaften weiterentwickeln sollen.
„Wo ich normal über Herausforderungen rede, rede ich hier über ein Problem.“Bruno Walter über die Schaffung preisgünstigen Wohnraums