Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Europas Asyl-Pakt mit Erdogan verschafft Deutschland eine Atempause
Mehr als 1,2 Millionen Flüchtlinge leben zurzeit in der Bundesrepublik – Zahlen seit 2016 stark gesunken – Abschiebung bleibt oft ein Problem
STUTTGART - Applaudierende Menschen, die Züge mit Flüchtlingen willkommen hießen: Was im Herbst 2015 mit einer Welle der Hilfsbereitschaft begann, wuchs sich später zu einer innenpolitischen Krise in Deutschland aus. Während weiterhin Tausende Ehrenamtliche sich dafür einsetzten, Flüchtlinge zu versorgen, zeigten sich Behörden überfordert, Kommunen überlastet, die Politik lange zögerlich. Seither sind die Flüchtlingszahlen gesunken – Ausdruck des politischen Kurswechsels. Die Fakten und Streitpunkte im Überblick von Katja Korf.
Wie viele Flüchtlinge sind nach Deutschland gekommen?
Das ist schwer zu beantworten. Denn wer nicht direkt von der Polizei aufgegriffen wird oder sich selbst bei den Behörden meldet, fällt zunächst nicht unbedingt auf. Mittlerweile betonen alle zuständigen Behörden jedoch, dass sie anders als noch 2015 einen wesentlich besseren Überblick haben. Der Grund dafür sind verstärkte Grenzkontrollen und eine raschere Datenerfassung der Ankömmlinge. So stauten sich im November 2015 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) mehr als 355 900 Asylanträge. Zum 31. Juli 2017 waren es knapp 121 280 Erstanträge (??). Insgesamt beantragten in Deutschland 2015 fast 441 900 Menschen zum ersten Mal Asyl, 2016 waren es 722 370. Im ersten Halbjahr 2017 erfasste das Bamf rund 117 300 Asylgesuche. Zählt man anerkannte Asylbewerber und Menschen mit Bleiberecht zusammen, leben derzeit rund 1,27 Millionen Flüchtlinge in Deutschland.
Warum sind die Zahlen der neuen Asylfälle so stark gesunken?
Im Frühjahr 2016 riegelten einige osteuropäische EU-Staaten ihre Grenzen ab, teilweise sogar mit Zäunen. Die Balkanroute, über die zuvor Hunderttausende nach Norden strömten, war damit geschlossen. Viele Flüchtlinge sind deshalb in Griechenland und Italien gestrandet. Nach Italien kamen seit Jahresbeginn mehr als 93 000 Menschen. Faktisch kommen daher weniger Flüchtlinge nach Deutsch- land, tatsächlich aber ist das Problem in Europa nicht kleiner geworden. Daran entzündet sich Kritik: Flüchtlinge gelangen erst gar nicht ins Land, die Last ihrer Unterbringung ruht vielmehr auf den Schultern anderer Staaten – darunter auch Nicht-EUMitglieder wie das zerrüttete Libyen oder Staaten im Nahen Osten.
Was bewirkt der Flüchtlingsdeal mit der Türkei?
Die EU hat außerdem seit März 2016 einen Pakt mit dem türkischen Präsidenten Erdogan. Die Türkei hat sich verpflichtet, alle Menschen zurückzunehmen, die illegal über das Mittelmeer von ihrem Hoheitsgebiet nach Griechenland fliehen. Im Gegenzug nimmt die EU Syrer auf und verteilt sie auf die Mitgliedstaaten. Dafür bekommt die Türkei Geld, um Flüchtlinge zu versorgen. Das Problem dabei: Während die Grenzsicherung zur EU funktioniert, läuft die Umverteilung der Flüchtlinge schleppend an. Deshalb sitzen in der Türkei 3,4 Millionen Migranten fest. Davon sind viele tatsächlich vor Krieg und Verfolgung vor allem in Syrien geflohen und hätten durchaus ein Recht auf Asyl in der EU. Außerdem werfen Kritiker vor allem Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, mit dem autokratischen Präsidenten Erdogan ein Geschäft gemacht zu haben: Damit mache man sich von Erdogan abhängig und kungle mit jemandem, den man sonst für sein undemokratisches Gebaren kritisiere.
Wie viele Menschen haben Deutschland wieder verlassen?
Insgesamt 54 000 Flüchtlinge reisten 2016 freiwillig zurück in ihre Heimat. In den ersten sechs Monaten 2017 traten nur 16 645 die Rückreise an. 2016 wurden 25 000 Menschen abgeschoben, 2017 waren es bis zur Jahresmitte 12 545. Baden-Württemberg hat bis Ende Juli 2108 Ausländer abgeschoben. Die Rückführungen haben kontroverse Debatten ausgelöst. Zum einen bezweifeln Menschenrechtler, dass, zum Beispiel, Afghanistan so sicher ist, dass man dorthin Menschen abschieben darf. Außerdem gibt es Kritik daran, dass Behörden ausgerechnet jene Menschen abschieben, die eine Arbeitsstelle und festen Wohnsitz haben – sie sind leichter ausfindig zu machen als abgelehnte Asylbewerber, die untertauchen. Andererseits monieren viele, es werde zu zögerlich abgeschoben. So leben in Baden-Württemberg 19 845 Menschen, die eigentlich ausreisen müssten – im Vergleich zu 22 399 Menschen Anfang 2017. Zahlreiche Probleme verhindern ihre Rückführung.
Welche Probleme gibt es denn bei den Abschiebungen?
Ein Problem ist es, dass viele Staaten ihre eigenen Landsleute nicht wieder aufnehmen wollen. Auch wenn die Asylbewerber ihre Dokumente verlieren oder absichtlich wegwerfen, wird es oft schwer, ihre Nationalität endgültig zu klären oder Ersatzpapiere aus ihren Heimatländern zu besorgen. Derzeit leben in der Bundesrepublik rund 226 000 Menschen, die ausreisen müssten. Viele von ihnen werden aber geduldet. Einige sind krank, anderen fehlen Reisepapiere – weil es zum Beispiel Probleme mit den Herkunftsländern gibt. Etwa 60 000 Menschen aber könnten abgeschoben werden. Die Bundesländer handhaben dies jedoch unterschiedlich. Bayern schob nach einem Bericht der „Augsburger Allgemeinen“7,5 Prozent der Ausreisepflichtigen ab, Baden-Württemberg 7,2 Prozent. Dagegen sind es etwa in Nordrhein-Westfalen nur 4,4 Prozent.