Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Mit Bach wider den politischen Verdruss
Die Tuttlinger Sopranistin Marlis Petersen und die Liebe zu ihrer zweiten Heimat Griechenland
LESBOS - „Griechenland und die EU – das geht für mich nicht.“Marlis Petersen lässt ihren Blick über den Hafen von Molyvos, einer Hafenstadt auf der ägäischen Insel Lesbos, schweifen. Ihre Augen wandern hinauf zu den Mauern der im frühen 13. Jahrhundert erbauten Burg. Es ist ein Satz, der vom deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble stammen könnte – aber aus dem Munde der weltweit gefeierten Sopranistin? Die Sopranistin, von der Fachzeitschrift „Opernwelt“bereits dreimal zur Sängerin des Jahres gewählt wurde, lebt seit 2008 in Athen, findet Deutschland als „sehr anstrengend“und bezeichnet die griechische Sonne als „meine Tankstelle“.
Die 48-jährige Künstlerin setzt zur Erklärung an. Während in ihrer schwäbischen Heimat Tuttlingen die Menschen für die Wirtschaft stets verlässlich funktionierten, gebe in Griechenland ein anderer Rhythmus den Takt an: „Den Griechen ist Ehrgeiz fremd. Stattdessen fordern hier Familie und Gesellschaft soziale Zeit ein, braucht ein jeder auch über den Urlaub hinaus seine ‚seelische Zeit‘ für den Blick aufs Meer.“Dass just in diesem Moment die Sonne glutrot in der Ägäis versinkt, mutet da fast schon wie Kitsch an.
Kultur als Fluchtpunkt
Mag die Wut auf den in der Schuldendiskussion unnachgiebigen Schäuble inzwischen einer Ohnmacht gegenüber den Banken gewichen sein, die Probleme sind stets gegenwärtig. Längst gehe es nicht mehr um die Frage, ob sich die Griechen noch Urlaub im eigenen Land leisten könnten, erzählt Petersen, sondern an die Existenz. „Die meisten Menschen hier haben keinen finanziellen Puffer – und nachdem die Renten erneut gekürzt wurden und die Mehrwertsteuer auf 24 Prozent gestiegen ist, müssen viele fürchten, dass sie sich bald selbst ihre geliebten Oliven, Tomaten und den Schafskäse nicht mehr leisten können.“
Zumindest für kurze Zeit verdrängen die Konzerte des Molyvos International Music Festivals (MIMF) diesen tristen Alltag. Dessen diesjähriges Motto „Katharsis“besitzt ebenfalls nur für den Moment Gültigkeit: Traumaverarbeitung durch die Kunst, wie sie einst schon Aristoteles in der Tragödie zu finden suchte.
Mit ihrem wunderbar natürlichen Sopran bittet die Sängerin „Habe doch Geduld mit mir“, als sie auf der byzantinischen Festung Bachs Kantate „Mein Herze schwimmt im Blut“ebenso farbig wie feinfühlend und berührend in den Sternenhimmel schickt. Die Reihen zwischen den Burgmauern sind dicht besetzt, in seinem dritten Sommer lockt das MIMF immer mehr Gäste aus dem Ausland an. Ein kleiner Hoffnungsschimmer in der Dauerkrise, den die deutsch-griechischen Pianistinnen Danae und Kiveli Dörken hier in Molyvos 2015 entzündet haben. Die Klavierschwestern aus Düsseldorf haben dort als Kinder allsommerlich die Ferien bei ihrer Großmutter verbracht.
Auch Petersen, die einst in Stuttgart Schulmusik, Gesang und Jazz studierte, um dann die Opernbühnen von New York bis Wien zu erobern, war schon im Startjahr dabei: „Ich fand die Idee der beiden toll, klassische Musik hierher zu bringen und etwas für die Insel zu tun“, erinnert sich der unkomplizierte Star. Zum abendlichen Konzert gibt sie der Fahrt mit wehendem Haar auf dem Motorrad der Autotour mit Chauffeur den Vorzug. Ohne Gage sang sie damals das Sopran-Solo in Mahlers Vierter – und reiht sich auch heuer in das kleine, für alle Musiker gleiche Einheitshonorar ein, als sie am letzten Abend voll spielerischer Leichtigkeit die höchst virtuosen Koloraturen in Mozarts Motette „Exsultate, jubilate“in die Sommernacht schickt.
Zwischen Hoffen und Bangen
Sängerisch zweifellos ein Grund zum Jauchzen und Jubeln – doch für die Menschen von Molyvos am Ende nur eine Sternschnuppe. Nachdem als Folge der Flüchtlingskrise im vorletzten Jahr, als Lesbos für Hunderttausende Menschen zur ersten Anlaufstation auf ihrer Odyssee wurde, die Zahl der Touristen auf 34 000 eingebrochen war, erwartet Hotelier Theofilos Chavoutsiotis 2017 wieder einen Anstieg auf rund 40 000 Gäste, nicht zuletzt durch die Zunahme der Kulturtouristen. Und doch ist diese Zahl noch immer weit entfernt von den ehemals 80 000 Besuchern – fatal für die Menschen hier, die zu 90 Prozent vom Tourismus leben.
„Wenn die junge, gut ausgebildete Generation hier die Geschicke in die Hand nimmt, hätte das Land eine Chance“, sagt Petersen. Und fürchtet doch im gleichen Augenblick, dass Griechenland dann seine Urwüchsigkeit verlöre, gar zu einem „zweiten Mallorca“werden könnte. Ein Hinund Hergerissensein, das die Sängerin mit den Menschen hier teilt: Einerseits der Wunsch nach mehr Effektivität – andererseits nach jener Ursprünglichkeit, die sie schon als Twen faszinierte, als sie des Sommers mit dem Moped die griechischen Inseln erkundete, „geflasht vom Meer und diesen wunderbaren Gerüchen“, und deren Reizen sie sich bis heute nur zu gern hingibt. Zwei Welten eben, so wie Griechenland und die EU: Am Ende hilft da auch keine Katharsis.