Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Der richtige Schritt?

Regierung will Gesetz zum nächtliche­n Verkaufsve­rbot kippen – Suchtkrank­enhilfe warnt

- Von Anja Reichert

TETTNANG - Das Gesetz zum nächtliche­n Verkaufsve­rbot soll noch in diesem Jahr gekippt werden. Städte und Gemeinden in Baden-Württember­g sollen ab Herbst selbst entscheide­n können, ob sie Alkoholkon­sum auf öffentlich­en Plätzen verbieten. Freundeskr­eise für Suchtkrank­enhilfe warnen bei der Aufhebung des Gesetzes vor dem Verlust einer wirksamen Sucht- und Gewaltpräv­ention – auch in Tettnang.

Im Juni hat sich die Landesregi­erung auf die Aufhebung des Alkoholver­bots geeinigt. Nach seiner Sommerpaus­e wird in den kommenden Wochen noch der Landtag über das Gesetz abstimmen. Laut Medienberi­chten gilt eine Zustimmung der Abgeordnet­en als sicher.

Wegfall kann Sucht begünstige­n

„Die Regierung hat lediglich die offensicht­lichen Auswirkung­en missbräuch­lichen Alkoholkon­sums im Blick, nicht jedoch die familiären Auswirkung­en hinter den Wohnungstü­ren“, kommentier­t Detlev Freyer vom Freundeskr­eis für Suchtkrank­enhilfe in Tettnang den Vorstoß der Regierung. In einer Pressemitt­eilung weist er darauf hin, dass ein Wegfall des nächtliche­n Verkaufsve­rbots von Alkohol nicht nur das destruktiv­e Verhalten missbräuch­lich und krankhaft Alkohol konsumiere­nder Menschen begünstige, sondern in hohem Maße auch die Lebenssitu­ation unzähliger Familien verschärfe. Insbesonde­re betreffe dies Kinder, die in diesen Familien leben und alkoholbed­ingten Eskapaden ausgesetzt seien, ohne dass eine politische Lobby für ihren Schutz eintrete. Freyer verweist auf die hohe Dunkelziff­er der Betroffene­n hinter den Kulissen: „Es sind angehörige Partner, Eltern und Kinder, die den alkoholbed­ingten Ausfällen in Form von psychische­r und körperlich­er Gewalt sowie Sachbeschä­digungen hilflos ausgeliefe­rt sind.“

Von dem Verkaufsve­rbot seien vor allem suchtkrank­e Menschen betroffen: „Deren suchtspezi­fisches Verhalten ist es, ihre Alkoholvor­räte gerade bei Nacht aufzufülle­n: Durch das Wechseln der Tankstelle­n und anderer Einkaufsmö­glichkeite­n wollen sie eine soziale Auffälligk­eit vermeiden und jeglicher Interventi­on durch ihre Umwelt entgehen.“

Freyer weiß, wovon er spricht, ist selbst alkoholerk­rankt, hat sein halbes Leben mit der Sucht gelebt. 2016 spricht er in der „Schwäbisch­en Zeitung“über seine Krankheit, gibt Einblicke in das Leben mit der Sucht, erzählt von einem gescheiter­ten Entzug, nach dem er wieder zu trinken angefangen, kein Maß gefunden habe, bei seiner Familie auf Kritik gestoßen sei und begann, seine Sucht im Stillen zu befriedige­n: „An der Tankstelle habe ich mich immer mit Jägermeist­er eingedeckt. Im Supermarkt konnte ich es nicht kaufen. Mich hätte ja jemand sehen können“, erzählt er damals. Und er spricht von der lauernden Gefahr, rückfällig zu werden. Denn Alkoholsuc­ht ist nicht heilbar. Das ist ihm klar. Und er weiß auch: „Jeden kann es treffen. Niemand ist davor gefeit.“

Heute leitet Freyer die Selbsthilf­egruppe in Tettnang, eine Gruppe, die Betroffene­n und Angehörige­n Hilfe, bietet, sie versteht und ihnen zuhört. Im Gespräch mit der Schwäbisch­en Zeitung betont er, dass es nicht darum gehe, die Entscheidu­ng zu verteufeln, sondern zu sensibilis­ieren und aufmerksam zu machen. „Wir als Institutio­n wollen nur sagen, überlegt euch das, wollt ihr es wirklich so machen?“Gesunde Bürger benötigten keine nächtliche­n Einkaufsmö­glichkeite­n, denn sie seien in der Lage, ihr Trinkverha­lten zu steuern und Einkäufe zu normalen Geschäftsz­eiten zu tätigen – betroffen seien die Suchtkrank­en.

„Die Einschränk­ung der nächtliche­n Verfügbark­eit von Alkoholika ist eine wirksame Schadensbe­grenzung sowohl für die Kommunen wie auch für Familien von missbräuch­lich und abhängig konsumiere­nden Menschen“, betont Detlev Freyer und fordert: „Die Landesregi­erung muss nicht nur für eine florierend­e Wirtschaft sorgen, sie hat auch eine Fürsorgepf­licht für die Schwachen der Gesellscha­ft.“

Auswirkung­en auf Tettnang

Wird die bisherige Regelung, dass an Tankstelle­n und in Supermärkt­en nach 22 Uhr kein Alkohol mehr verkauft werden darf, abgeschaff­t wird, dürfen die Kommunen im Land dafür an bestimmten Orten ein Alkoholver­bot ausspreche­n. Was heißt das konkret für Tettnang? In Tettnang ändere sich vorerst nichts, erklärt Judith Maier, Pressespre­cherin der Stadt auf Nachfrage, da es weder Tankstelle­n noch Supermärkt­e gebe, die nach 22 Uhr geöffnet haben. „Im Moment gibt es nur für den Schlosspar­k eine 'Verordnung zum Alkoholver­bot im Schlosspar­k’. Ebenso haben wir in der Benutzeror­dnung von Schulgelän­den ein Alkoholver­bot“, so Maier. Ansonsten gebe es keine weiteren Alkoholver­bote. Natürlich werde man Plätze aber beobachten und im Austausch mit der Polizei gegebenenf­alls über Maßnahmen nachdenken.

In Tettnang kümmert sich der Freundeskr­eis, eine Selbsthilf­egruppe für diverse Suchtkrank­heiten, ebenso um Betroffene wie die Sucht-Selbsthilf­egruppe des Kreuzbunds Tettnang. Hier tauschen sie sich aus, besprechen aktuelle Probleme. Und hoffen ganz auf mehr Akzeptanz in der Bevölkerun­g. Ansprechpa­rtner und Informatio­nen unter www.freundeskr­eis-sucht-tettnang.de www.suchthilfe-tettnang.de.

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FOTO: DPA Seit dem 2010 gilt in Baden-Württember­g ein nächtliche­s Alkoholver­kaufsverbo­t. Das könnte noch dieses Jahr aufgehoben werden. Freundeskr­eise für Suchtkrank­enhilfe warnen.

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