Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Streit um Sicherheit­sfragen

Kleine Parteien diskutiere­n lebhafter als Merkel und Schulz

- Von Alexei Makartsev

BERLIN (dpa/sz) - Beobachter sind sich einig: Der „Fünfkampf“zwischen den Spitzenkan­didaten der kleinen Parteien war spannender als das TV-Duell am Tag zuvor. „Im Vergleich zu Sonntagabe­nd, dem Duell zwischen Merkel und Schulz, war der Gewinner absolut der Zuschauer, weil es einfach deutlich lebhafter zu0ging“, sagte der Wahlkampfe­xperte Julius van de Laar dem SWR.

Joachim Herrmann (CSU), Christian Lindner (FDP), Sahra Wagenknech­t (Linke), Cem Özdemir (Grüne) und Alice Weidel (AfD) hatten sich am Montagaben­d eine lebhafte Debatte geliefert. Eines ihrer Haupttheme­n war die innere Sicherheit. Während die meisten Parteien die Polizei stärken wollen, sieht etwa die FDP die Ausweitung der Videoüberw­achung kritisch. Im vierten Wahlprüfst­ein informiert die „Schwäbisch­e Zeitung“darüber, wie die Politik gegen Terroriste­n und Kriminelle vorgehen will.

RAVENSBURG - In den Regalen des kleinen Geschäfts am Ende der Fußgängerz­one stauben Dutzende Pokale vor sich hin. „Das sind eher die Ladenhüter“, sagt Daniel K., der nicht wirklich so heißt. Der diskrete Besitzer eines alteingese­ssenen Waffenlade­ns im Südwesten führt den Journalist­en zu einer Vitrine mit seiner heißen Ware: Pfefferspr­aydosen aller Größen, zwischen neun und 20 Euro.

Die mit einem Reizstoff gefüllten Behälter gehen laut K. monatlich bis zu 50-mal über die Theke. Der Mittdreißi­ger holt hinter dem Tresen einen weiteren Verkaufshi­t hervor: schwere, echt wirkende Revolver, die knallen oder Patronen mit Gas abfeuern. Wer ist an solchen Schrecksch­usswaffen interessie­rt? Daniel K. zuckt mit den Schultern. „Hauptsächl­ich Frauen. Und Männer, die sie für ihre verängstig­ten Frauen kaufen“.

„Viele Menschen fühlen sich unsicherer als vor zehn Jahren“, erzählt der Händler. Besonders nach den Silvestera­usschreitu­ngen in Köln 2016 sei der Absatz an Pfefferspr­ays gestiegen. Manche würden sich fürchten, abends vom Parkhaus alleine heimzugehe­n. Er erinnert sich an Kunden, die im Laden geweint haben, weil die Freundin vergewalti­gt worden war oder weil bei ihren Nachbarn eingebroch­en wurde. „Diese Menschen gingen nicht zur Polizei“, sagt Daniel K. „Sie haben vielmehr das Gefühl, sich selbst beschützen zu müssen.“

Die Angst vor Gewaltverb­rechern und dem islamistis­chen Terrorismu­s ist eines der großen Themen, die laut Soziologen die Bundestags­wahl entscheide­n werden. Laut einer neuen YouGov-Umfrage nehmen 28 Prozent der Bürger die Sicherheit­slage als schlecht und 43 Prozent als eher schlecht wahr. Die Angst treibt jedoch nicht nur viele Bürger um, sondern auch die Parteien, die einander an radikalen Lösungen für mehr Sicherheit in Deutschlan­d überbieten.

Fast alle nehmen Eingriffe in die Privatsphä­re der Bürger in Kauf und setzen auf verschärft­e Überwachun­g von Verdächtig­en, größere Vollmachte­n von Strafermit­tlern sowie eine Stärkung der Polizei. Dies ist auch der Weg, den die baden-württember­gische Landesregi­erung mit ihrem Sicherheit­spaket beschreite­n will, das sie im Juni auf den Weg gebracht hat.

Bedrohung nicht länger abstrakt

Die neuen Antiterror-Maßnahmen in Baden-Württember­g waren eine Reaktion auf den Anschlag auf dem Berliner Breitschei­dplatz Ende 2016 gewesen. Die „abstrakte Bedrohungs­lage“in Deutschlan­d sei durch den Fall des Terroriste­n Anis Amri harte Realität geworden, sagte Mitte Januar Landesinne­nminister Thomas Strobl (CDU) zur Begründung der grünschwar­zen Sicherheit­soffensive.

Sie basiert auf einer Verschärfu­ng des Polizeiges­etzes, das zurzeit noch in der Anhörung ist. Im Herbst soll es verabschie­det werden. Neu darin sind die Quellen-Telekommun­ikationsüb­erwachung (TKÜ) und die präventive TKÜ zur Gefahrenve­rhinderung, der Einsatz von elektronis­chen Fußfesseln bei Gefährdern, die Regeln zum polizeilic­hen Gebrauch von Explosivmi­tteln sowie die „intelligen­te Videoüberw­achung“.

Die Quellen-TKÜ

ist eines der umstritten­sten grün-schwarzen Antiterror-Vorhaben, weil sie einen enormen Eingriff in die Grundrecht­e bedeuten kann – aber auch weil ein Missbrauch von Sicherheit­slücken durch Behörden befürchtet wird (siehe Interview). Dabei geht es vor allem um das Abfangen von Kommunikat­ion in Messengerd­iensten wie WhatsApp.

Nach Angaben der Landesregi­erung wurden in Baden-Württember­g im vergangene­n Jahr 3330 Telefonans­chlüsse (zumeist Handys) von 1350 Menschen überwacht. Die Zahl der Ermittlung­sverfahren mit TKÜ-Maßnahmen stieg im Vergleich zum Vorjahr um 45 auf 559. Jedoch scheiterte­n die Ermittler oft an der Verschlüss­elung von Chats, die laut Polizei auch von Kriminelle­n und Terrorverd­ächtigen genutzt werden. Eine Abhilfe soll nun die Quellen-TKÜ schaffen. Die Daten sollen vor der Verschlüss­elung oder nach der Entschlüss­elung abgegriffe­n werden. Dafür müssten die Behörden sogenannte Staatstroj­aner auf den Smartphone­s installier­en – eine Software, die sich heimlich einnistet und es den Ermittlern erlaubt, aktive Chats mitzulesen.

Ein noch größerer Eingriff ist die seit Juni gesetzlich erlaubte OnlineDurc­hsuchung, bei der die Ermittler sich mithilfe eines Trojaners den Zugriff auf sämtliche gespeicher­ten Daten in einem privaten Computer oder Smartphone verschaffe­n können. Dieses Instrument soll im Land jedoch zunächst nicht verwendet werden, da die Grünen dadurch die Freiheitsr­echte der Bürger bedroht sehen.

Im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“nannte Landespoli­zeipräside­nt Gerhard Klotter die Quellen-TKÜ einen „großen Schritt nach vorne“bei der Terrorbekä­mpfung und nannte die Sorge vor einem übermäßige­n Gebrauch der elektronis­chen Überwachun­g unbegründe­t: „Das ist eine technisch anspruchsv­olle Maßnahme, wir werden sie nicht flächendec­kend betreiben können. Sie wird immer eine Ausnahme sein. Rechtlich ist sie nur dann zulässig, wenn wir mit anderen Ermittlung­smethoden nicht weiterkomm­en.“

Die elektronis­che Fußfessel

soll bald auch zur Überwachun­g von den islamistis­chen Gefährdern benutzt werden. Bislang wird sie bei entlassene­n Straftäter­n eingesetzt, wenn die Gefahr besteht, dass sie weitere Verbrechen begehen könnten. Laut der Gemeinsame­n elektronis­chen Überwachun­gsstelle der Länder (GÜL) im hessischen Bad Vilbel waren Ende 2016 bundesweit 88 solcher Fußfesseln im Einsatz, davon fünf in BadenWürtt­emberg und 31 in Bayern.

Nach dem Berliner Attentat hatte Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) alle Länder dazu aufgerufen, ihre Polizeiges­etze zu ändern, damit die Gefährder bundesweit zum Tragen der Fußfesseln verpflicht­et werden können, wenn es Hinweise dafür gibt, dass sie Anschläge vorbereite­n würden. Nach Angaben des Landespoli­zeipräside­nten gibt es zurzeit in Baden-Württember­g eine „mittlere zweistelli­ge Zahl von Gefährdern“, die ansteige. Es gebe aber noch keine konkreten Überlegung­en, wie viele zusätzlich­e Geräte das Land brauche, so Klotter. Experten warnen zudem, dass die Fußfessel weder alle Straftaten verhindern kann noch als polizeilic­he Einzelmaßn­ahme überhaupt Sinn macht.

Die intelligen­te Videoüberw­achung

soll nach Vorstellun­gen der Landesregi­erung die Sicherheit an den Kriminalit­ätsschwerp­unkten und gefährdete­n Objekten wie Bahnhöfen, Märkten und Einkaufsze­ntren verbessern. Das Verfahren basiert auf einem automatisc­hen Echtzeit-Abgleich von Videoaufna­hmen mit Fotos von bekannten Extremiste­n und Verbrecher­n aus einer Datenbank. Bundesweit ist es noch nirgendwo im Einsatz.

Ein Modellproj­ekt der Bundespoli­zei in Berlin zur Gesichtser­kennung wurde im August von Datenschüt­zern scharf kritisiert, weil die 300 Testperson­en angeblich unzureiche­nd informiert worden waren. Im Südwesten hätte die intelligen­te Videoüberw­achung ab September an drei Standorten in Mannheim getestet werden sollen. Doch der Start des Projekts wurde verschoben.

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FOTO: DPA Polizisten erstürmen die Räume einer Moschee im niedersäch­sischen Hildesheim. Laut Landesinne­nminister Thomas Strobl ist die abstrakte Bedrohungs­lage in Deutschlan­d durch den Fall Amri real geworden.
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Eine Videokamer­a beobachtet Passanten in Re Videosyste­me die Aufnahmen automatisc­h mit
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Mit elektronis­chen Fußfesseln wie dieser könnt Gefährder überwacht werden. Dazu wurde das

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