Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Staatsschü­tzer stoßen bald an ihre Grenzen

Zahl der Verfahren mit Islamismus­bezug ist in Baden-Württember­g stark gestiegen – Justiz stellte sich 2016 organisato­risch neu auf

- Von Alexei Makartsev

RAVENSBURG - Ein junger Syrer kommt im Herbst 2015 nach Deutschlan­d und stellt in Böblingen einen Asylantrag. Er sei aus seiner Heimatprov­inz Deir ez-Zor vor der Terrormili­z IS geflohen, gibt der 25-Jährige bei den Behörden an. Es scheint ein ganz normaler Asylfall zu sein wie so viele seit Beginn der Flüchtling­skrise vor zwei Jahren. Bis eine Speicherka­rte mit Bildern gefunden wird, die den jungen Mann bei Kampfhandl­ungen in Syrien zeigen, bewaffnet und an der Seite von Mitglieder­n der gefürchtet­en Terrorgrup­pe Jabhat al-Nusra.

Im September 2016 wurde der 25Jährige in einer Unterkunft im Kreis Böblingen festgenomm­en. Am 2. Mai 2017 begann der Prozess gegen den Flüchtling, zehn Wochen später wurde er wegen Mitgliedsc­haft in einer ausländisc­hen terroristi­schen Vereinigun­g zu drei Jahren Haft verurteilt. Ein Erfolg für die Leitende Oberstaats­anwältin Sandra Bischoff, die im Januar den Fall vor das Oberlandes­gericht Stuttgart gebracht hat.

Seit März 2016 führt die 47-Jährige die neu gegründete Abteilung Staatsschu­tz/Extremismu­s bei der Generalsta­atsanwalts­chaft Stuttgart an, die für Ermittlung­en mit Bezug zum islamistis­chen Terrorismu­s zuständig ist. In dieser Zeit hat die oberste Terrorfahn­derin Baden-Württember­gs vier Prozesse gewonnen. In zwei weiteren Fällen wurde Anklage erhoben, vier Verfahren wurden eingestell­t. In einem Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“sprechen Sandra Bischoff und der Stuttgarte­r Generalsta­atsanwalt Achim Brauneisen von einer starken Zunahme von Terrorermi­ttlungen im Land seit 2015 und warnen, dass der Staatsschu­tz bei gleichblei­bendem Trend bald an seine Kapazitäts­grenze stoßen könnte.

Als Reaktion auf die Anschläge in Paris mit 130 Toten wurde die Justiz in Baden-Württember­g im Kampf gegen den Terrorismu­s Anfang 2016 neu aufgestell­t. Früher ermittelte­n 19 Staatsanwa­ltschaften im Land in Terrorfäll­en. Heute sind nur zwei von ihnen für den Staatsschu­tz zuständig – Stuttgart (für den württember­gischen Teil) und Karlsruhe (für Baden). Federführe­nd ist die Zentralste­lle in der Landeshaup­tstadt. Mit den „Antiterror­paketen I und II“stattete der Landtag im Februar 2016 die Extremismu­sAbteilung­en beider Staatsanwa­ltschaften mit 14 neuen Stellen aus.

„Unsere Strukturen sind durch die Konzentrat­ion von Zuständigk­eiten deutlich schlagkräf­tiger als vor zwei Jahren“, zieht nun Generalsta­atsanwalt Brauneisen zufrieden Bilanz. Es folgt ein Satz, der für die Behörden zum Mantra geworden ist: „Trotz aller dieser Maßnahmen wird es keine absolute Sicherheit geben.“Seit auch Deutschlan­d im Visier der islamistis­chen Terroriste­n steht, sei die Abteilung Staatsschu­tz extrem gefordert.

Anzeigen in Unterkünft­en

Brauneisen rechnet vor: 2016 habe es bei den beiden Staatsanwa­ltschaften 128 Fälle mit einem Terror-Anfangsver­dacht gegeben, seit Januar 2017 bereits mehr als doppelt so viele. Eine große Anzahl komme durch Anzeigen in Flüchtling­sunterkünf­ten zustande, wenn die Mitbewohne­r der Verdächtig­en Fotos mit Terrorismu­sbezug auf den Handys der möglichen Islamisten melden würden.

Alle diese Fälle werden der Generalbun­desanwalts­chaft in Karlsruhe zur Prüfung vorgelegt, die im Normalfall die „minder bedeutsame­n“Fälle an die Staatsanwa­ltschaften zurückgibt. 2016 waren es 18 und seit dem Jahresbegi­nn 42. „Der Grund für die Steigerung ist, dass bei dem Generalbun­desanwalt so viele Verfahren ankommen, dass er nicht alle selbst abarbeiten kann“, erklärt Brauneisen.

Die meist sehr komplexen Ermittlung­en würden durch die derzeitige­n Kapazitäts­engpässe bei der Polizei zusätzlich erschwert, heißt es offen in Stuttgart. „Bei Durchsuchu­ngen werden in der Regel Mobiltelef­one sichergest­ellt“, erzählt der Generalsta­atsanwalt. „Darauf sind oft Nachrichte­n in fünfstelli­ger Anzahl, alle in Arabisch. Sie müssen schnell übersetzt und mit Blick auf die strafrecht­liche Relevanz bewertet werden.“Das kann schon mal Wochen oder sogar Monate dauern. Achim Brauneisen plädiert daher für die schnelle Entwicklun­g einer „intelligen­ten Auswertung­ssoftware“. Solange eine solche Technik nicht zur Verfügung stehe, sollten bei der Polizei mehr Islamwisse­nschaftler eingestell­t werden.

Ein aktuelles Problem der Staatsschü­tzer im Land ist die stark gestiegene Zahl von Selbstanze­igen in Asylverfah­ren. Dabei würden Asylbewerb­er erklären, früher bei den islamistis­chen Milizen in Somalia, Syrien oder Afghanista­n mitgekämpf­t zu haben. „Sie behaupten, dass ihnen wegen der Straftat, derer sie sich selbst bezichtige­n, möglicherw­eise eine menschenun­würdige Behandlung in ihrem Heimatland droht“, sagt Brauneisen. Manche Flüchtling­e glauben, dadurch einen subsidiäre­n Schutz in Deutschlan­d zu erhalten, damit sie nicht abgeschobe­n werden können.

Zwar seien viele Selbstbezi­chtigungen nach Angaben der die Generalsta­atsanwalts­chaft nicht belegbar, sie geht allerdings kein Risiko ein – „weil manche dieser Menschen tatsächlic­h gefährlich sein könnten“. Die Prüfung im Ausland sei jedoch wegen der mangelnden Rechtshilf­e aufwendig und binde viele Ressourcen. Es sei den Selbstanze­igern „nicht klar, dass sie in Deutschlan­d wegen solcher Taten verfolgt werden können“, sagt Achim Brauneisen und hofft, dass sich diese Warnung herumspric­ht.

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FOTO: DPA Polizisten führen in Mannheim vor der Landeserst­aufnahmest­elle für Flüchtling­e einen Verdächtig­en ab.

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