Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wenn der Bundestag zur Wahlkampfa­rena wird

Parteien nutzen letzte Parlaments­sitzung vor der Wahl für einen offenen und ausgiebige­n Schlagaust­ausch

- Von Andreas Herholz

BERLIN - Plötzlich wird es still, alle lauschen den Worten von Norbert Lammert. In seiner letzten Rede stimmt der scheidende Bundestags­präsident das Hohelied auf den Parlamenta­rismus an und beschwört den Konsens der Demokraten gegen Fanatiker und Fundamenta­listen. Am Ende gibt es stehende Ovationen. Dank für Lammert auch von der Kanzlerin, der sei mit Sigmar Gabriel abgestimmt, sagt Merkel in Anspielung auf das TV-Duell mit ihrem Herausford­erer Martin Schulz, bei dem der SPD-Kanzlerkan­didat in der Türkeifrag­e von der bisherigen Linie des Außenminis­ters abgewichen war.

Mit dem von Lammert beschworen­en Konsens ist es dann aber in der anschließe­nden Debatte schnell vorbei. Knapp drei Wochen vor der Bundestags­wahl ist das Parlament zu seiner letzten Sitzung zusammenge­kommen. Das Plenum gerät zur Wahlkampfa­rena, unter der Reichstags­kuppel wird heftig gestritten, drei Stunden lang tobt ein offener Schlagabta­usch. Regierung gegen Opposition, Schwarz gegen Rot, Grüne gegen Linke, jeder gegen jeden. Letzte Gelegenhei­t für einen Rundumschl­ag.

Angela Merkel (CDU) zieht am Ende eine rundum positive Bilanz der vergangene­n Jahre. Die Große Koalition habe „’ne Menge erreicht“. Doch dürfe man sich darauf nicht ausruhen. Deutschlan­d stehe „an der Schwelle einer neuen Entwicklun­gsetappe“, verweist die Kanzlerin auf die Herausford­erungen des digitalen Wandels. „Wir wollen nicht im Technikmus­eum enden“, warnt Merkel.

„Unverzeihl­iche Fehler“

Der Automobili­ndustrie bescheinig­t sie in der Dieselaffä­re „unverzeihl­iche Fehler“, bekennt sich aber zum Verbrennun­gsmotor. Dem Land gehe es gut, die Regierung habe gute Arbeit geleistet, Millionen Menschen hätten heute mehr in der Tasche, lautet ihre Botschaft. Das habe sie vor allem der SPD zu verdanken, ruft SPDGeneral­sekretär Hubertus Heil dazwischen. Da wird die Kanzlerin deutlich: „Gegen meinen Willen und den Willen der Union konnten Sie in diesem Parlament echt nichts durchsetze­n“.

Vizekanzle­r Sigmar Gabriel kontert: Seine Partei habe ihr helfen müssen gegen CSU-Chef Horst Seehofer und Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble, „dass Sie einen Willen haben durften“, stichelt der Außenminis­ter. „Wir haben gut auf Sie aufgepasst“, sagt er, und die Lacher der eigenen Parteifreu­nde sind ihm gewiss.

Doch der Vizekanzle­r kämpft mit angezogene­r Handbremse, dankt der Kanzlerin und dem Koalitions­partner für die gute Zusammenar­beit und lobt die gemeinsame Bilanz und Außenpolit­ik von Schwarz-Rot, so als wolle er sich bereits für die Zeit nach der Bundestags­wahl empfehlen. Statt Merkel hart anzugreife­n und seinem Kanzlerkan­didaten Martin Schulz Schützenhi­lfe zu leisten, der mangels Amt und Mandat fehlt, nimmt sich Gabriel lieber die Unionspoli­tiker Jens Spahn (CDU) und Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) vor.

Spahn wolle Sozialleis­tungen kürzen, um Rüstungsau­sgaben zu erhöhen, kritisiert Gabriel. Zu Guttenberg habe in seiner Zeit als Minister die Bundeswehr ruiniert. „Ich bin zwar für Resozialis­ierung, aber der ist mit der Bundeswehr so sorgsam umgegangen wie mit seiner Doktorarbe­it“, spottet Gabriel und erinnert an die Plagiatsaf­färe des CSU-Politikers, die ihn schließlic­h das Ministeram­t gekostet hatte.

Der Außenminis­ter wirbt für eine „neue Abrüstungs- und Ostpolitik“und warnt vor einer „Rückkehr in die dunkelsten Zeiten des Kalten Krieges“. Nicht Gabriel, sondern SPDFraktio­nschef Thomas Oppermann ist es, der im Stil eines Opposition­sführers mit Merkel abrechnet. „Viele Pläne sind an ihrem Widerstand gescheiter­t“, klagt er. Ob Mietpreisb­remse oder Mindestloh­n - die SPD habe in der Koalition viel erkämpfen müssen, „viel zu oft auch gegen Sie

selbst“. Auch Linke und Grüne werfen der Kanzlerin und ihrer Regierung Scheitern und Versagen vor. Für Merkels „anlasslose Euphorie“bestehe kein Grund. Mit ihrem „Schönwette­rwohlfühlw­ahlkampf“wolle sie die Menschen einlullen, kritisiert Linken-Fraktionsc­hefin Sahra Wagenknech­t. Grünen-Spitzenkan­didat Cem Özdemir vermisst einen härteren Kurs gegen den türkischen Präsidente­n Erdogan und dessen „langen Arm“nach Deutschlan­d.

Am Ende ihrer Rede sorgt Merkel noch unfreiwill­ig für Gelächter bei SPD und Opposition. Ihre Zeit sei „so gut wie vorbei“, so die Kanzlerin doppeldeut­ig.

„Ja, meine Redezeit hier“, stellt Merkel eilig klar, reagiert mit Kopfschütt­eln auf das Gejohle: „Mein Gott, wie weit sind wir jetzt eigentlich schon gekommen.“

Abschiedss­timmung nicht nur für Norbert Lammert am Ende einer denkwürdig­en Sitzung. Zahlreiche Parlamenta­rier kehren nicht wieder in den Bundestag zurück. Es sei „ein Privileg“für ihn gewesen, seinem Land in dieser Aufgabe zu dienen, dankt Lammert zum Abschied und ruft die Wählerinne­n und Wähler auf, vom „Königsrech­t der Demokratie“Gebrauch zu machen und zur Wahl zu gehen.

 ?? FOTO: DPA ?? Keine harten Angriffe: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verfolgt die Rede von Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD).
FOTO: DPA Keine harten Angriffe: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verfolgt die Rede von Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD).

Newspapers in German

Newspapers from Germany