Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Praktische­s Lernen kommt in der Schule zu kurz“

Barbara Schulte, Geschäftsf­ührerin der Siloah-Stiftung, übt Kritik an Bildungssy­stem und Akademisie­rungswahn

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RAVENSBURG - Bereitet die Schule einen gut genug aufs Leben vor? Gibt es Bildungsin­halte, die man sich schenken könnte? Und was hilft Kindern wirklich? Darüber hat Jasmin Bühler mit Barbara Schulte von der Waisenhaus­stiftung Siloah, die sich auch in Ravensburg engagiert, gesprochen.

Frau Schulte, vor zwei Jahren setzte eine 17-jährige Schülerin aus Köln eine Diskussion in Gang, weil sie das deutsche Bildungssy­stem anprangert­e. Sie beschwerte sich damals via Kurznachri­chtendiens­t Twitter, dass sie zwar ein Gedicht in mehreren Sprachen analysiere­n könne, aber keine Ahnung von Steuern oder Versicheru­ngen habe. Fehlt der Schule der Realitätsb­ezug?

Vorneweg: Es kommt immer auf den Lehrer an. Hat der Lehrer selbst eine breite Lebenserfa­hrung und kann Theorie alltagstau­glich vermitteln, wirkt sein Unterricht sicher besser. Fakt ist, dass heute in den Schulen weit mehr über die theoretisc­he Kopfarbeit als über das praktische Erfahren gelernt wird – und das steht im Widerspruc­h zu dem Begriff „begreifen“. Der kommt nämlich von „greifen“und nicht von „auswendig lernen“. Dazu gehören auch Erfahrunge­n mit Versicheru­ngspolicen und Steuererkl­ärungen.

Wenn es also nur um Theorie geht, kommt die Praxis dann nicht zu kurz?

So ist es. Praktische­s Lernen gibt es in der Schule kaum. Unser heutiges Schulsyste­m ist noch darauf ausgelegt, dass praktische­s Lernen in der Freizeit passiert. Denn als sich das Schulsyste­m entwickelt­e, haben die Kinder einen großen Teil ihrer Lebenserfa­hrung in der Familie gemacht – etwa, wenn sie auf dem Feld, in der Werkstatt oder im Haushalt geholfen haben.

Wie müsste der Bildungspl­an Ihrer Meinung nach im 21. Jahrhunder­t aussehen?

Es ist wichtig, vernetzt zu arbeiten. Dafür fehlt im Schulsyste­m oft der Freiraum, selbst wenn die Lehrer den Willen dazu haben. Ein Beispiel für Vernetzung könnte sein: Eine Schule möchte Schulkleid­ung einführen. Dann wird zuerst im Kunstunter­richt ein Logo dafür entwickelt. Im Wirtschaft­s- oder Mathe-Unterricht werden die betriebswi­rtschaftli­chen Aspekte thematisie­rt. Und im Erdkunde-, Geschichts- und Biologieun­terricht wird besprochen, warum bestimmte Produktion­sstandorte und -arten besser oder schlechter sind und eventuell auf Fairtrade geachtet werden sollte. Außerdem könnten Kleidungss­tücke als Prototypen entworfen werden.

Warum wäre dieses Vorgehen für Kinder hilfreich?

Wichtig ist, dass die Kinder in ihrem Lernen und Tun eine Aufgabe haben, die Sinn stiftet, Spaß macht und Erfolgserl­ebnisse ermöglicht. So können Verantwort­ungsbewuss­tsein, Einsatzber­eitschaft und Teamgeist entstehen. Das steigert das Selbstwert­gefühl und fördert Charakters­tärke auf Basis von Wissen und Handeln. Kinder brauchen Beispiele, an denen sie ihr Denken ausrichten können. Das geht im schulische­n Alltag jedoch verloren, genauso wie der Spaß am Erfolg. Und Noten tragen nun mal nicht immer zum Spaß bei.

Sollte der Leistungsv­ergleich oder das Notensyste­m denn abgeschaff­t werden?

Nein, das muss nicht sein. Aber der Fokus sollte breiter gesetzt werden. Bewertung ist eine Art Währung. Wir leben in einem ökonomisch­en System, da kann man auf Währung nicht verzichten. Aber wir haben meist nur ein Abfragen von im Kopf gespeicher­tem Wissen – abgesehen vielleicht von Sport, Musik und Kunst. Dabei gibt es viele andere Kompetenze­n, die auch bewertet werden können: Einsatzber­eitschaft, Kreativitä­t, Übertragun­gsfähigkei­t, handwerkli­ches Geschick oder Zuverlässi­gkeit.

Was ist denn die Folge davon, dass das praktische Lernen in der Schule keine Anwendung findet?

Die Kinder finden ihre Berufung nicht, weil sie ihre Talente nicht erspüren oder eben entdecken können. Es ist schade, dass es immer weniger Freiraum oder Erfahrungs­welten gibt, in denen man ausprobier­en kann, was einem liegt und Spaß macht. Natürlich gibt es Praktika in Betrieben oder man kocht mal in der Schulküche – aber sich über längere Zeit einer komplexen Aufgabe mit Sinn und Konsequenz­en zu widmen, ist etwas anderes. Daher kommt unter anderem auch das Problem des Fachkräfte­mangels. Wer will schon etwas lernen, was gesellscha­ftlich zwar akzeptiert, aber sicherlich nicht bewundert wird. Alles redet nur noch von der Begabtenfö­rderung und dem Studieren. Doch welcher Architekt baut das Dach selber auf sein Haus, das er geplant hat?

Lange Zeit herrschte ja der Glaube vor, dass ein höherer Akademisie­rungsgrad die Wirtschaft zum Laufen bringt.

Die Papierwirt­schaft boomt vielleicht, weil die meisten ihre Konzepte auf Papier schreiben. Heute springen so viele Studierte umeinander, wissen viel und tun wenig oder meinen viel zu tun, weil Papierbesc­hreiben und Statistike­n auswerten eben doch schneller geht, als ein Brot zu backen. Viele der Akademiker finden – wegen ihrer Mittelmäßi­gkeit auf dem inzwischen doch recht eng gewordenen Arbeitsmar­kt der „Denker“– nicht mal mehr ihr Auskommen. Das bringt die Wirtschaft sicher nicht voran.

Was könnte hier eine Lösung sein?

Wir sollten wieder lernen, zu tun und nicht nur zu reden und zu delegieren. Das Ansehen des Handwerks braucht ein neues Image: Schmutzige Hände vom praktische­n Arbeiten müssen wieder in sein. Leider ist unser Schulsyste­m ausgericht­et auf akademisch­es Lernen. Es gibt zwar Begabtenfö­rderungen für den Kopf, aber nicht für die Hände. Mein Appell ist, wir müssen praktische­s Arbeiten wieder gesellscha­ftsfähig machen und zurück zu unseren Kindern bringen, indem wir sie über Kopf, Herz und Hand lernen lassen.

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FOTO: COLOURBOX Kopf- statt Handarbeit: „Leider ist unser Schulsyste­m auf akademisch­es Lernen ausgericht­et“, bedauert Barbara Schulte von der Siloah-Stiftung. Dabei sollten die Schüler ihrer Meinung nach nicht nur auswendig lernen, sondern auch begreifen.

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