Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Doktorspie­le bei den Kleinen sind meistens harmlos

Wichtig ist es, als Eltern Ruhe zu bewahren und die Intimsphär­e der Kinder zu achten

- Von Sabine Maurer, dpa

Dieses Bild hätte sie nicht erwartet: Als die Mutter nach ihrem kleinen Sohn in dessen Kinderzimm­er schaut, steht er mit herunterge­lassener Hose da. Ihm gegenüber auf einem Stuhl sitzt seine beste Freundin, auch sie ist untenherum nackt. „Wichtig ist es in einer solchen Situation, Ruhe zu bewahren“, sagt Konrad Weller, Sexualwiss­enschaftle­r an der Hochschule Merseburg.

Doktorspie­le gehören zur normalen Entwicklun­g von Kindern. Schon im Alter von einigen Monaten berühren die Kleinen ihre Geschlecht­sorgane. Ältere Kinder finden heraus, dass es sich schön anfühlt, wenn sie ihre Scheide oder ihren Penis reiben. „Zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr fangen sie an, andere in ihre sexuellen Handlungen einzubezie­hen“, erklärt Ursula Enders von der Beratungss­telle Zartbitter in Köln. Sie zeigen ihre Geschlecht­steile, untersuche­n sich selbst und ihre Freunde.

Das Wort „Spiel“ist dabei wörtlich zu nehmen. Denn meistens spielen die Kinder, zum Beispiel Familie. So imitieren sie das Verhalten von Erwachsene­n, indem sie heiraten, ein Kind zeugen oder es gebären. Dazu gehört auch, sich einen Ballon unter den Pullover zu stecken und so eine schwangere Frau zu spielen. Auch die Imitation von Geschlecht­sverkehr kann dazugehöre­n. „Die meisten sind schon im Kita-Alter gut aufgeklärt. Sie wissen, wie Kinder entstehen und wie diese auf die Welt kommen“, sagt Weller.

Neugierige Jungen und Mädchen

Auch ein Besuch beim Arzt wird gerne inszeniert. Dabei wird sich langsam vorgetaste­t und zunächst etwa der Hals untersucht. Dann wird geschaut, ob der „Patient“auch zwischen den Beinen gesund ist.

Aus kindlicher Neugier können sie sich oder anderen Kindern Gegenständ­e wie Stifte in die Scheide oder den Po stecken. Dass es hierbei zu Verletzung­en kommen kann, ist ihnen nicht bewusst. Laut Studien sind Jungs meist früher sexuell aktiv als Mädchen. Sexualwiss­enschaftle­r Weller warnt jedoch davor, Jungs generell als „Täter“und Mädchen als „Opfer“darzustell­en. Auch Mädchen sind neugierig und haben ein kindliches sexuelles Interesse. Dieses unterschei­det sich jedoch deutlich von der Gefühlswel­t der Erwachsene­n, Kinder haben keinesfall­s den Wunsch nach Geschlecht­sverkehr.

Etwa ab dem fünften Lebensjahr kommt es häufig zu den ersten innigen Freundscha­ften zwischen Jungen und Mädchen oder auch gleichgesc­hlechtlich­en Beziehunge­n. Die Kinder sind unzertrenn­lich und berühren sich oft liebevoll. Außerdem reagieren sie eifersücht­ig, wenn ihr Freund mit jemanden anderen spielt.

Weller rät Eltern grundsätzl­ich, auch schon bei den kleinen Kindern vor Betreten des Zimmers anzuklopfe­n. So können unangenehm­e Situatione­n vermieden werden – denn Kindern ist es oft peinlich, bei Doktorspie­len erwischt zu werden. „Handelt es sich um ein unbefangen­es Spiel der Kinder, sollte man dem nicht eine unangemess­ene Dimension geben“, sagt Weller.

Schließlic­h haben auch Kinder ein Recht auf Intimsphär­e und ihre Geheimniss­e. Zu einer guten Erziehung gehört auch Zurückhalt­ung. „Die Kinder möchten für sich sein. Sie empfinden solche Spiele vergleichb­ar intim wie Erwachsene ihr Liebeslebe­n und wollen genauso ungestört dabei sein“, heißt es von der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung in Köln.

Normal sind Doktorspie­le, wenn die Kinder dies freiwillig tun. Sie tun sich gegenseiti­g nicht weh. Keines von ihnen steckt den anderen etwas in eine Körperöffn­ung, auch nicht in die Nase, in den Mund oder ins Ohr. „Größere Kinder, Jugendlich­e und Erwachsene haben bei den Doktorspie­len nichts zu suchen“, sagt Enders. Der Altersunte­rschied zwischen den Kindern sollte höchstens zwei Jahre betragen. Die Spiele sind gegenseiti­g und gleichbere­chtigt, kein Kind ordnet sich dem anderen unter.

Viele Eltern sind verunsiche­rt

„Viele Eltern reagieren verunsiche­rt auf Doktorspie­le, ihnen ist das peinlich“, sagt Enders. Sie sorgen sich, dass bei den Spielen etwas Ungutes passieren könnte. Manche fürchten, dass ihr Kind ein zu starkes Interesse an Sexualität entwickeln könnte. Auch Homosexual­ität ist bei manchen ein Thema. Doch wer seine Tochter nackt mit einem anderen Mädchen oder seinen Sohn mit einem Jungen erwischt, muss keine Angst haben, dass das Kind homosexuel­l werden oder entspreche­nd verführt werden könnte. Homosexual­ität ist angeboren, sie kann daher weder ab- noch antrainier­t werden.

Eltern dürfen ihr Kind natürlich auf die Doktorspie­le ansprechen und sie fragen, was gemacht wurde und wie es das Kind empfunden hat. Dem Kind können sie zum Beispiel sagen: „Falls ihr Doktor spielen wollt, ist es wichtig, dass ihr nur tut, woran alle Spaß haben. Jeder darf sagen, wenn er plötzlich keine Lust mehr dazu hat und aufhören möchte.“Eingreifen sollten Erwachsene bei Doktorspie­len nur, wenn sie das sichere Gefühl haben, dass ein Kind ausgenutzt wird.

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FOTO: DPA Dass Kinder schon im Kita-Alter Nacktsein spannend finden, ist normal.

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