Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Fünf Minuten Drama
Die Debatte um den Videobeweis dominiert das glückliche 2:1 des VfB gegen Köln
STUTTGART - Viele Menschen neigen dazu, die Dinge in schwarz oder weiß zu unterteilen, gut oder böse, falsch oder richtig, schuldig oder unschuldig. Mischtöne, Graustufen kommen in ihrer Gedankenwelt nicht vor. Der Videobeweis, im Sommer in der Bundesliga eingeführt, ist das beste Beispiel. Eingeführt wurde er, um krasse Fehlentscheidungen bei kniffligen Tor- und Elfmeterszenen zu vermeiden. Aber manche Aktionen bleiben selbst nach exzessivem Studium mehrdeutig, unklar, ambivalent, und der Videobeweis wird untauglich. Auch so ein VAR, so ein Video Assistant Referee, wie der Videobeweis offiziell heißt, ist eben nur ein Mensch.
Hauptschiedsrichter Benjamin Cortus machte diese Erfahrung am Freitagabend in der Mercedes-BenzArena. In der 89. Minute rasselten Stuttgarts Dennis Aogo und der Kölner Sehrou Guirassy beim Stand von 1:1 im Kellerduell ineinander, Guirassy kam mit gestrecktem Fuß, man touchierte sich, beide fielen hin, Cortus entschied zur Überraschung vieler auf Elfmeter. Die Stuttgarter protestierten wild, die Zuschauer reagierten geschockt. Klar: Eine Pleite gegen das Schlusslicht hätte den VfB in arge Zukunftsängste versetzt. Auch Cortus beschlichen offensichtlich Zweifel, er diskutierte lange mit dem in Köln sitzenden Videoschiedsrichter, sah sich die Bilder schließlich selbst an und gab nach endlosen 3:43 Minuten: Schiedsrichterball. Offenbar war die Szene nicht entschlüsselbar, respektive: Ein klares Foul von einer Seite lag nicht vor. Cortus nahm seine Entscheidung also zurück. Nur Augenblicke später schoss Chadrac Akolo den 2:1-Siegtreffer, alle Stuttgarter sprinteten zu ihm und bedeckten ihn mit ihren Körpern im Gras, ganz oben das Maskottchen Fritzle. Fünf Minuten Drama waren zu Ende.
Ein VfB-Fan, der nach der Partie an den Reportern vorbeilief, hatte allerdings Probleme, es zu verarbeiten: „Der DFB soll den Videobeweis wieder abschaffen, der macht den ganzen Fußball kaputt, schreibt das endlich.“ Dass das Leben durch die digitale Technik einfacher wird, hatte allerdings auch keiner versprochen.
Stuttgarts Manager Michael Reschke schätzte das Drama realistischer ein: Heute habe man das Glück gehabt, das in Frankfurt, als der VfB in der Nachspielzeit 1:2 verlor, gefehlt habe, sagte er und forderte Menschen und Medien dazu auf, fairer mit den Schiedsrichtern umzugehen. „Cortus hat sich viel Zeit für die Entscheidungsfindung genommen, einfach, weil er alles richtig machen wollte. Aber er hat wohl erkannt: Manchmal ist ein Beweis eben kein Beweis.“
Jörg Schmadtke, sein Kölner Kollege, verstand dagegen die Welt nicht mehr: „Es gibt einen Kontakt, und der Schiedsrichter hat eine Entscheidung getroffen. Das ist keine klare Fehlentscheidung. Dann frage ich mich, warum die Videoassistenten in Köln sich einmischen? Das muss mir irgendwann einer erklären. Ich werde nun von allen möglichen Experten erklärt bekommen, warum das kein Elfmeter ist. Die Szene zeigt, dass das, was besprochen wurde und das, was getan wird, zwei unterschiedliche Dinge sind.“Trainer Peter Stöger, der vor dem ultimativen Kellerduell gegen Bremen am Sonntag mehr denn je unter Druck steht, wollte sich zum Thema gar nicht erst äußern. Er habe einfach keine Lust dazu nach der Niederlage und all dem unbelohnten Aufwand, den man betrieben habe. „Von der ersten Qualifikation für den Europacup seit 25 Jahren zum schlechtesten Saisonstart, seit Fußball gespielt wird“, sagte er trocken: „Damit muss man erst mal fertig werden.“Selbst in Minute 95 hatten die 30 Minuten lang dominanten Gäste ja durch Guirassy noch eine Riesenchance zum 2:2, die VfB-Torhüter Ron-Robert Zieler allerdings glänzend entschärfte.
„Ron hat den Sieg festgehalten und uns auch vor dem Rückstand bewahrt“, sagte VfB-Trainer Hannes Wolf. Auch 1:0-Schütze Tassos Donis bekam ein Sonderlob für „seine Dynamik und Durchschlagskraft in den Zweikämpfen“. Wolf weiß allerdings auch: „Stabil sind wir noch nicht.“Immerhin hat der VfB nun neun Punkte zwischen sich und Köln gebracht, dem das Wasser inzwischen bis zum Hals steht. Schmadtke will weiter an Stöger festhalten, räumte aber am Sonntag bei Sky ein: „Wenn ich dir mein Telefon zeige, wer sich alles bei mir meldet, dann weißt du, dass du kurz vorm Abgrund bist.“
„Aber er hat wohl erkannt: Manchmal ist ein Beweis eben kein Beweis“VfB-Sportvorstand Michael Reschke