Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Mit über 100 Stundenkilometern ins Netz
In der Schweiz wurde der bisher stärkste Schutzzaun gegen Steinschlag getestet - Klimawandel verstärkt Gefahr durch bröckelnde Felsen
WALENSTADT - Der Countdown läuft. Er dröhnt durch einen alten Steinbruch oberhalb des Walensees, einem idyllischen, von Bergen umrahmten Alpengewässer in der nordöstlichen Schweiz. Gezählt wird auf Englisch, weil die rund 300 Zuschauer aus aller Welt kommen. Sie warten angespannt in der Nachmittagssonne des Oktobertages auf das, was gleich passieren soll: Weit oben hängt ein 25 Tonnen schwerer Betonklotz an einem Kran. Ein Haken hält ihn. Wird er gelöst, rauscht das grün gestrichene Gewicht 42 Meter in die Tiefe und trifft dort mit 103 Stundenkilometern auf eine Art Stahlnetz, das entlang des Felsens installiert wurde.
25 Tonnen rauschen in die Tiefe
„Es ist das stärkste Steinschlagschutzsystem, das je entwickelt wurde“, sagt Marcel Sennhauser, Vater der Konstruktion, ein drahtiger Ingenieur. Hält das Netz aber, was es verspricht? „... three, two, one“, tönen die letzten Zahlen aus einem Lautsprecher. Der Klotz fällt. Ein leichtes Aufstöhnen unter den Zuschauern. Dann rauschen die 25 Tonnen ins Netz – Getöse, die ganze Schutzinstallation ist in Bewegung. Sie beult sich fast sieben Meter nach unten aus. Aber ihre Stahlmaschen halten.
Beifall kommt auf. Er ist mehr als eine höfliche Anerkennung. Wer hier zuschauen durfte, gehört zum Kreis globaler Fachleute, die sich in irgendeiner Form mit dem Schutz vor Steinschlag beschäftigen. Eingeladen hatte die Firma Geobrugg, ansässig in der eidgenössischen Bodenseegemeinde Romanshorn. Sie gilt als Technologieführer im Bereich solcher Schutznetzkonstruktionen. Das Geschäft läuft – auch weil das Thema Steinschlag, Bergstürze oder Murenabgänge immer brisanter wird. „Die Naturgefahren nehmen einfach zu“, betont Geobrugg-Chef Andrea Roth. „Allein schon die Permafrostgrenze in den Bergen verlagert sich durch den Klimawandel immer weiter nach oben.“
Das Schweizer Schnee- und Lawinenforschungsinstitut in Davos hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass der eigentlich ständige alpine Bodenfrost inzwischen schon in Höhen bis 3000 Metern bedroht ist. Selbst weit darüber finden Experten inzwischen relativ frische Gesteinsrisse, die für die Zukunft Böses ahnen lassen.
Welche Folgen der schwindende Permafrost haben kann, dürften zumindest im kleinen Rahmen die meisten Bergsteiger bereits selbst erlebt haben: Wo noch vor 20 Jahren steinige Pfade fast wie betoniert wirkten, gehen nun Gerölllawinen ab. Das Eis als Bindemittel fehlt. Schlimmer wird es zudem, wenn Tauwasser tiefer in Felsritzen eindringt. Friert es über Nacht – oder auch erst im Winter – können ganze Felskolosse abgesprengt werden.
Den schlimmsten Zwischenfall in jüngerer Zeit hat es beim Dorf Bondo im südlichsten Zipfel Graubündens gegeben. Acht Wanderer starben, als dort im August drei Millionen Kubikmeter Gestein von einem Berg wegbrachen und eine riesige Mure auslösten. Das Drama wegen der Toten versperrte aber ein wenig den Blick darauf, dass im Umfeld von Bondo ein ausgeklügeltes, funktionierendes Schutzsystem existierte. Es war nach einem früheren Bergsturz im Jahr 2011 entstanden.
Um Muren Herr zu werden, hatte man ein riesiges Überlaufbecken für Geschiebe gebaut. Des Weiteren sollte eine rund 500 Meter lange und zwei Meter hohe Betonmauer fortan das Dorf schützen. Und noch etwas ließen die Gemeinde-Verantwortlichen installieren: ein Radarsystem, das ständig gefährdete Felsbereiche vermisst. Rührt sich etwas am Berg, erfolgt eine Alarmierung.
Gewaltiger Bergsturz in Bondo
Die Messanlagen zeigten heuer erstmals Ende Juli verdächtige Felsbewegungen. Die Behörden verhängten daraufhin für einige Hochweiden Betretungsverbote. Am 23. August um 9.30 Uhr war es schließlich so weit: Bergsturz, Alarm für Bondo. Die Bewohner räumten das Dorf. Indes fingen das Auffangbecken und die Wälle die vom Bergsturz ausgehende Mure größtenteils auf. Die Schäden in Bondo hielten sich in Grenzen. Hätten gleichzeitig die Bergsteiger auf die Warnung ihres Hüttenwirts gehört und auf ihre Wanderung verzichtet, wären sie noch am Leben.
Stahlnetze spielten bei Bondo angesichts der Geländebedingungen keine weitere Rolle. Geobrugg-Chef Roth meint: „Jeder gefährdete Ort braucht individuelle Lösungen. Unsere Schutzsysteme passen dorthin, wo wenig Platz ist – etwa an Klippen über Verkehrswegen.“Unweit vom Testgelände existiert eine solche Extrem-Installation der Firma. Sie ist auf der anderen Seite des Walensees. Dort drüben schützt ein Fangzaun, der 8000 Kilojoule Energie absorbieren kann, ein Tunnelportal der Autobahn. „Bisher war das unser stärkstes Schutzsystem“, erklärt Roth.
Ein „Weltrekordversuch“
Das neue Netz verträgt indes nochmals 2000 Kilojoule mehr. Dafür ist es auch kostspieliger. „Je nach Gelände kostet ein Laufmeter grob geschätzt 10 000 Franken“, sagt der Geobrugg-Chef. Beim Probeaufbau im Steinbruch waren es 30 Laufmeter. Ein durchaus teurer Versuch – und natürlich gleichzeitig ein glänzendes Schaulaufen für die Firma Geobrugg. Deren PR-Abteilung sprach deshalb auch gerne von einem „Weltrekordversuch“.
Braucht es aber diese Schutzkategorie wirklich? „Wenn sich über Ihnen ein Riesenfels löst, sind Sie froh darum“, antwortet einer der anwesenden Fachleute salopp auf die zweifelnde Frage. Von der Hand zu weisen ist das nicht. So hätte vor elf Jahren ein wirkungsvoller Steinschlagschutz das Leben zweier Deutscher auf der Gotthard-Autobahn im Kanton Uri retten können. Ein halbes Dutzend jeweils rund zehn Tonnen schwerer Steinblöcke krachte auf die Fahrbahn. Einer davon traf voll auf einen deutschen Pkw.
Die Gotthard-Autobahn war zwar seinerzeit nicht ungesichert. Schutznetze, Schutzdämme, Schutzgalerien – all dies gab es schon lange. „Aber überall an jedem Flecken eine hundertprozentige Sicherheit zu gewähren, ist letztlich unbezahlbar“, meint wiederum ein weiterer Gast der Geobrugg-Vorführung. Immerhin wurde jedoch nach dem Unglück auf der Gotthard-Route der Schutz gegen Steinschlag weiter verstärkt.
Hohe Summen für Schutz
Wie viel Geld die Schweiz konkret pro Jahr für entsprechende Maßnahmen springen lässt, ist jedoch schwer beziffern. Allein was die Nationalstraßen angeht, spricht das zuständige Bundesamt für Straßen von jeweils zweistelligen Millionensummen. Im benachbarten Österreich hat die dortige Autobahnbetriebsgesellschaft Asfinag von 2018 bis 2023 allein für Tirol und Vorarlberg rund 17 Millionen Euro zum Straßenschutz eingeplant.
Tendenziell dürften die Ausgaben zur Behütung vor abgehenden Steinen oder Erdmassen steigen. Neben dem Klimawandel spielt jedoch offenbar noch eine andere Entwicklung ein Rolle. Anne Schöpa, Steinschlag-Spezialistin des deutschen G eo forschungszentr ums in Potsdam, weist daraufhin :„ Durch mehr Siedlungen und Infrastruktur im Alpenraum sind wir auch verwundbarer. Wir werden also versuchen müssen, uns zu schützen und mit der Gefahr zu leben.“Schöpa will damit unter anderem sagen, dass heutzutage selbst dort gebaut wird, wo die Altvorderen wegen möglicher Gefahren lieber weggeblieben sind.
Gefährdetes Mittelrheintal
Es wäre aber falsch, ein Steinschlagoder Murenrisiko nur in den Alpen zu verorten. Auch anderswo stehen Bauten im Risiko-Bereich und existiert brüchiges Gestein – etwa entlang Deutschlands romantischstem Flussabschnitt, dem burgenreichen Mittelrheintal zwischen Bingen und Koblenz. Schiefer kommt dort oft vor. Dass er inzwischen öfters abbricht als früher, hat auch mit dem Klimawandel zu tun. Vermehrter Starkregen macht dem Gestein zu schaffen, löst seine Verbindung in den Abhängen der Alpen ebenso im Flachland. Weshalb die Deutsche Bahn entlang ihrer Mittelrheinstrecken am linken wie rechten Ufer in den Steinschlagschutz investierte. Die Rede ist von 100 Millionen Euro in den vergangenen 15 Jahren.
Im deutschen Südwesten ist etwa die Bundesstraße durchs Schwarzwälder Höllental gefährdet – vor allem bei jener Passage, wo der bekannte Hirschsprung-Felsen steht und es weiter nach Freiburg geht. Erst jüngst wurde die Straße besser gesichert. Ein automatisches Warnsystem existiert nun. Zudem gibt es weitere Stahlnetze. „Bei uns reichen aber Systeme, die für eine EnergieAbsorbtion von 3000 Kilojoule ausgelegt sind“, meinen zwei Mitarbeiter des Regierungspräsidiums Freiburg, die den Weg zum Versuchssteinbruch am Walensee auf sich genommen haben.
Immer stärkere Systeme
Marcel Sennhauser, der Entwickler des gefeierten neuen Fangzauns, hat die Worte gehört. Er sinniert, blickt hinüber zum 25 Tonnen schweren Betonklotz. Eingefangen im Netz hängt der Koloss bewegungslos. Man könnte darunter herumtanzen. „Ja, könnte man“, meint der Ingenieur und sagt schließlich: „Mit dem System für 3000 Kilojoule wie es im Schwarzwald verwendet wird, haben wir vor über 15 Jahren angefangen.“Schon damals sei gefragt worden, ob ein solcher Schutz nicht überdimensioniert sei. Aber jede Steigerung habe seine Nachfrage gefunden. Selbst für das nun erprobte 10 000-Kilojoule-System gebe es bereits mögliche Einsatzorte – etwa im Bereich der St.Bernadino-Straße.
„Technisch machbar“, betont Sennhauser, „wäre auch ein System, das 12 000 Kilojoule Energie absorbiert.“Also eine Art Superzaun. Ein Problem gibt es jedoch: Für den Test eines solchen Zaun-Giganten wäre das Versuchsgelände im Steinbruch am Walensee zu klein.
Eine Multimedia-Reportage über den Klimawandel finden Sie unter www.schwäbische.de/klimasuedwest