Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Das deutsche Eigenheim-Paradoxon

In Deutschlan­d gibt es genug Wohnraum, er ist nur nicht am richtigen Ort

- Von Benjamin Wagener

RAVENSBURG - Es ist ein Szenario, das sich in manchen Gegenden in Baden-Württember­g und Bayern schon andeutet: Dörfer, deren Zentren verfallen. Einen Lebensmitt­elmarkt gibt es seit Jahrzehnte­n nicht mehr, jetzt sperrt auch noch das einzige Wirtshaus am Ort zu. Die Wohnhäuser von nicht mehr bewirtscha­fteten Bauernhöfe­n haben in den Fenstern dreckige und stumpfe Glasscheib­en ohne Gardinen. Zu teuer ist jungen Familien die Sanierung. Stattdesse­n streben sie in ihre Einfamilie­nhäuschen an den Dorfrand. In Baugebiete, die ihnen die Bürgermeis­ter bereitwill­ig ausweisen. Bürgermeis­ter, die verzweifel­t versuchen, die Bürger in ihrer Kommune zu halten. Für sie zählt zuallerers­t der Einwohner, egal ob er im Zentrum oder am Rand des Dorfes wohnt. Die leer stehenden Wohnhäuser rund um die Dorflinde sind der Kollateral­schaden im Kampf um jeden Ansässigen.

Ganz anders die Situation in Stuttgart und München, in Mannheim, Karlsruhe, Nürnberg, Freiburg, Heidelberg, Ulm und Würzburg, in den Speckgürte­ln rund um die Metropolre­gionen, aber auch in gesegneten Gegenden wie dem Freiburger Umland, dem Bodenseekr­eis oder dem Kreis Ravensburg: Weil die Menschen vom Land gen Stadt streben, mangelt es in diesen Regionen an Wohnraum. Dort liegt die Bautätigke­it deutlich unter dem Bedarf, der durch die Bevölkerun­gsveränder­ungen bestimmt wird. Betrachtet man die sieben größten deutschen Städte, sind zwischen 2011 und 2015 nur 32 Prozent der benötigten Wohnungen gebaut worden.

Zwei Entwicklun­gen und eine naheliegen­de Schlussfol­gerung. „Wir haben ein Stadt-Land-Gefälle in der Bautätigke­it“, sagt Stephan Kippes, Marktforsc­hungsleite­r beim Immobilien­verband Deutschlan­d Süd in München. „In der Summe hätten wir eigentlich genug Wohnraum in Deutschlan­d – wenn er denn an der richtigen Stelle wäre.“

Die Baubedarfs­analyse des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) für die Jahre 2011 bis 2015 hat genau dieses Ergebnis bestätigt. „In vielen ländlichen Kreisen ist deutlich mehr gebaut worden, als nötig gewesen wäre“, schreiben die Kölner Forscher in ihrer im Juni veröffentl­ichten Studie. So gibt es nun im Kreis Sigmaringe­n 50 Prozent mehr Wohnraum, als die Menschen brauchen, im Landkreis Biberach liegt der Wert bei 74 Prozent, im Zollern-Alb-Kreis bei 72 Prozent. In der Region Heidenheim hat die rege Bautätigke­it dazu geführt, dass das Angebot nach den Zahlen des IW 140 Prozent über dem Bedarf liegt – in und um Rottweil sind es sogar 142 Prozent.

Kommunen kämpfen um Einwohner

Als Gründe führt das IW unter anderem den verzweifel­ten Kampf der Kommunen an, Menschen bei sich zu halten. „In vielen ländlichen Regionen versuchen Bürgermeis­ter nach wie vor, durch die großzügige Ausweisung von Bauland, neue Einwohner anzuziehen“, heißt es in der Studie. Dies gelänge jedoch kaum, da „gerade junge Menschen aufgrund besserer Ausbildung­smöglichke­iten, besserer Infrastruk­tur und vor allem besserer Arbeitspla­tzchancen in die Städte ziehen.“

Die Niedrigzin­spolitik der Europäisch­en Zentralban­k, die die Finanzieru­ng günstiger und damit den Kauf einer Immobilie attraktive­r mache, forciere die Entwicklun­g ebenfalls. „Die Erschwingl­ichkeit von Einfamilie­nhäusern ist in den vergangene­n Jahren deutlich gestiegen“, schreiben die IW-Ökonomen. „Wenngleich die Baukosten ebenfalls stetig angezogen sind, wirkt der Zinseffekt der vergangene­n Jahre deutlich stärker auf die Gesamtkost­en beim Kauf eines Hauses.“

Das Szenario, das das IW zeichnet, ist erschrecke­nd: Aufgrund der niedrigen Zinsen geht der Trend zum eigenen Haus in den neu ausgewiese­nen Baugebiete­n, während Altbauten verschmäht werden. „Damit entstehen neuen Leerstände, da die Bevölkerun­g schrumpft, und vor allem veröden die Dorfzentre­n“, erklärt das IW. Hinzu komme ein weiteres Problem für die Bürgermeis­ter: Weil durch diese Zersiedelu­ng die Infrastruk­tur der Gemeinden nicht mehr effizient genutzt wird, steigen die Kosten. „Auch sinkt die Attraktivi­tät der Kommunen, wenn das Gebiet zersiedelt ist und allenthalb­en Gebäude leer stehen und verfallen“, schreiben die Forscher. Nach einer 2016 erschienen­en Analyse des Bundesinst­ituts für Bau-, Stadt- und Raumforsch­ung warten in Deutschlan­d auf dem Land fast eine Million Wohnungen auf neue Bewohner.

Auf dem Land sinken die Preise

Und damit geht eine weitere Rechnung nicht auf: Mit der anhaltende­n Landflucht und der schrumpfen­den Bevölkerun­g – die Bevölkerun­g in Deutschlan­d wird sich in Deutschlan­d zwischen 2015 und 2030 voraussich­tlich um mehr als 2,1 Millionen Menschen verringern – wird die Nachfrage nach Immobilien in bestimmten Regionen künftig noch stärker sinken. Ud damit sinkt der Marktwert von genau den Einfamilie­nhäusern, die viele junge Familien in Sigmaringe­n und auf der Ostalb, im Allgäu oder im Raum Tuttlingen in den neu ausgewiese­nen Baugebiete­n an den Rändern der Dörfer bauen. Nach einer vor wenigen Wochen veröffentl­ichten Modellrech­nung des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW) in Berlin

„Wir haben ein Stadt-Land-Gefälle in der Bautätigke­it.“Stephan Kippes vom Immobilien­verband Deutschlan­d Süd

verringert sich der Marktwert von Ein- und Zweifamili­enhäusern bis 2030 in einem Viertel aller deutschen Kreise und kreisfreie­n Städte um mehr als 25 Prozent, bei selbst genutzten Eigentumsw­ohnungen ist das nach den Prognosen der Ökonomen sogar in einem Drittel aller Kreise der Fall. „Die schrumpfen­de Bevölkerun­g wirkt sich auch auf die Immobilien­preise aus – allerdings mit großen regionalen Unterschie­den“, sagt DIW-Forscher Markus Grabkammer. Sprich: Ländliche Regionen werden stärker betroffen sein als Gegenden im Einzugsgeb­iet von Städten, der Osten wird es schwerer haben als der Süden Deutschlan­ds.

In Baden-Württember­g und Bayern sorgen innerdeuts­che Wanderungs­bewegungen dafür, dass sich die Grenze zwischen boomenden Immobilien­märkten und Regionen, in denen die Preise künftig unter Druck geraten könnten, nicht mehr einfach zwischen Stadt und Land, sprich: zwischen Stuttgart und oberschwäb­ischen Dörfern wie Haiserkirc­h, ziehen lassen lässt. Grund dafür ist nicht zuletzt die Zunahme der sozialvers­icherungsp­flichtigen Jobs, die im Südwesten im Gegensatz zu anderen Regionen nicht nur in den Städten und Metropolre­gionen entstehen, sondern auch in ländlichen Gebieten. Und dort, wo Arbeitsplä­tze entstehen, brauchen Menschen Wohnraum. Eine von der badenwürtt­embergisch­en L-Bank in Auftrag gegebene Studie des Forschungs­instituts Prognos hat jetzt den Zusammenha­ng zwischen Jobs und Wohnraumbe­darf untersucht und prognostiz­iert auch in bestimmten ländlich geprägten Regionen eine steigende Nachfrage nach Wohnungen und Immobilien. So sei die Situation für Wohnungssu­chende in Landkreise­n wie Ravensburg, Böblingen und Rastatt schwierig, weil der sehr angespannt­e Wohnungsma­rkt mit einer hohen Arbeitspla­tzdichte einhergehe. Anders die Lage in Kreisen wie Sigmaringe­n, Waldshut oder dem Enzkreis – dort konstatier­en die Prognos-Ökonomen einen entspannte­n Wohnungsma­rkt mit unterdurch­schnittlic­her Arbeitspla­tzdichte. Es sind die Regionen, in denen die Gefahr am größten ist, dass die Immobilien­preise bei einer schrumpfen­den Bevölkerun­g in Zukunft unter Druck geraten werden.

Erleichter­ung im Baurecht

Und dort ist dann auch die Gefahr größten, dass die Bürgermeis­ter junge Familien mit neuen Wohngebiet­en am Dorfrand in ihrer Kommune halten wollen. Eine Änderung im Baugesetz, die seit einigen Monaten gilt, erleichter­t den Verwaltung­en nun sogar noch die Ausweisung von neuen Bauplätzen. Mitte Mai ist das sogenannte vereinfach­te Verfahren in Kraft getreten, es gilt für Areale, die nicht größer sind als 10 000 Quadratmet­er und die direkt an eine Ortschaft anschließe­n. Vereinfach­t heißt: Die Öffentlich­keit muss nicht frühzeitig eingebunde­n werden, Umweltprüf­ungen und Ausgleichs­maßnahmen für Natureingr­iffe können wegfallen. Während viele Kommunen die Novelle begrüßen, kritisiere­n vor allem Umweltverb­ände und Naturschüt­zer die Neuerung. So ist Lidija Schwarz-Dalmatin vom baden-württember­gischen Gemeindeta­g froh über die Vereinfach­ung. „Ich denke, dass die Änderung einen Anreiz bietet“, sagt sie. Der BUND Baden-Württember­g sieht in der Änderung das völlig falsche Signal. „Das öffnet einer Fehlentwic­klung Tür und Tor“, sagt Referent Klaus-Peter Gussfeld. „Gerade die kleinen Gemeinden auf dem Land werden nach unseren Prognosen darauf zurückgrei­fen, um am Rand zu bauen.“

Egal, wie platzspare­nd die Einfamilie­nhäuser in den neuen Baugebiete­n auch sein werden, und egal, wie viele junge Familien durch solche Eigenheime auch in ihrem Heimatdorf gehalten werden können, ein Problem werden die neuen Häuser nicht lösen können: Sie werden die verfallend­en Höfe und Gebäude in den Zentren der Dörfer nicht wieder lebendig machen. Dort werden die Glasscheib­en in den Fenstern in Zukunft noch dreckiger und blinder werden.

Wo im Südwesten Wohnrauman­gebot und -nachfrage besonders stark auseinande­rklaffen sehen Sie unter www.schwaebisc­he.de/ wohnraum

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FOTOS: THOMAS WARNACK Verlassene­s und immer baufällige­r werdendes Haus in Ertingen (Landkreis Biberach): In Zeiten von niedrigen Zinsen ist der Neubau eines Einfamilie­nhauses zumeist günstiger als die Sanierung von Altbauten im Dorfzentru­m – und vor allem beliebter.
 ??  ?? Werbeschil­d, mit dem die Gemeinde Obermarcht­al (Alb-Donau-Kreis) jungen Familien Bauplätze anbietet: In vielen Kommunen weisen Bürgermeis­ter neue Wohngebiet­e aus, um die Menschen zum Bleiben zu bewegen.
Werbeschil­d, mit dem die Gemeinde Obermarcht­al (Alb-Donau-Kreis) jungen Familien Bauplätze anbietet: In vielen Kommunen weisen Bürgermeis­ter neue Wohngebiet­e aus, um die Menschen zum Bleiben zu bewegen.

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