Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Das deutsche Eigenheim-Paradoxon
In Deutschland gibt es genug Wohnraum, er ist nur nicht am richtigen Ort
RAVENSBURG - Es ist ein Szenario, das sich in manchen Gegenden in Baden-Württemberg und Bayern schon andeutet: Dörfer, deren Zentren verfallen. Einen Lebensmittelmarkt gibt es seit Jahrzehnten nicht mehr, jetzt sperrt auch noch das einzige Wirtshaus am Ort zu. Die Wohnhäuser von nicht mehr bewirtschafteten Bauernhöfen haben in den Fenstern dreckige und stumpfe Glasscheiben ohne Gardinen. Zu teuer ist jungen Familien die Sanierung. Stattdessen streben sie in ihre Einfamilienhäuschen an den Dorfrand. In Baugebiete, die ihnen die Bürgermeister bereitwillig ausweisen. Bürgermeister, die verzweifelt versuchen, die Bürger in ihrer Kommune zu halten. Für sie zählt zuallererst der Einwohner, egal ob er im Zentrum oder am Rand des Dorfes wohnt. Die leer stehenden Wohnhäuser rund um die Dorflinde sind der Kollateralschaden im Kampf um jeden Ansässigen.
Ganz anders die Situation in Stuttgart und München, in Mannheim, Karlsruhe, Nürnberg, Freiburg, Heidelberg, Ulm und Würzburg, in den Speckgürteln rund um die Metropolregionen, aber auch in gesegneten Gegenden wie dem Freiburger Umland, dem Bodenseekreis oder dem Kreis Ravensburg: Weil die Menschen vom Land gen Stadt streben, mangelt es in diesen Regionen an Wohnraum. Dort liegt die Bautätigkeit deutlich unter dem Bedarf, der durch die Bevölkerungsveränderungen bestimmt wird. Betrachtet man die sieben größten deutschen Städte, sind zwischen 2011 und 2015 nur 32 Prozent der benötigten Wohnungen gebaut worden.
Zwei Entwicklungen und eine naheliegende Schlussfolgerung. „Wir haben ein Stadt-Land-Gefälle in der Bautätigkeit“, sagt Stephan Kippes, Marktforschungsleiter beim Immobilienverband Deutschland Süd in München. „In der Summe hätten wir eigentlich genug Wohnraum in Deutschland – wenn er denn an der richtigen Stelle wäre.“
Die Baubedarfsanalyse des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) für die Jahre 2011 bis 2015 hat genau dieses Ergebnis bestätigt. „In vielen ländlichen Kreisen ist deutlich mehr gebaut worden, als nötig gewesen wäre“, schreiben die Kölner Forscher in ihrer im Juni veröffentlichten Studie. So gibt es nun im Kreis Sigmaringen 50 Prozent mehr Wohnraum, als die Menschen brauchen, im Landkreis Biberach liegt der Wert bei 74 Prozent, im Zollern-Alb-Kreis bei 72 Prozent. In der Region Heidenheim hat die rege Bautätigkeit dazu geführt, dass das Angebot nach den Zahlen des IW 140 Prozent über dem Bedarf liegt – in und um Rottweil sind es sogar 142 Prozent.
Kommunen kämpfen um Einwohner
Als Gründe führt das IW unter anderem den verzweifelten Kampf der Kommunen an, Menschen bei sich zu halten. „In vielen ländlichen Regionen versuchen Bürgermeister nach wie vor, durch die großzügige Ausweisung von Bauland, neue Einwohner anzuziehen“, heißt es in der Studie. Dies gelänge jedoch kaum, da „gerade junge Menschen aufgrund besserer Ausbildungsmöglichkeiten, besserer Infrastruktur und vor allem besserer Arbeitsplatzchancen in die Städte ziehen.“
Die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank, die die Finanzierung günstiger und damit den Kauf einer Immobilie attraktiver mache, forciere die Entwicklung ebenfalls. „Die Erschwinglichkeit von Einfamilienhäusern ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen“, schreiben die IW-Ökonomen. „Wenngleich die Baukosten ebenfalls stetig angezogen sind, wirkt der Zinseffekt der vergangenen Jahre deutlich stärker auf die Gesamtkosten beim Kauf eines Hauses.“
Das Szenario, das das IW zeichnet, ist erschreckend: Aufgrund der niedrigen Zinsen geht der Trend zum eigenen Haus in den neu ausgewiesenen Baugebieten, während Altbauten verschmäht werden. „Damit entstehen neuen Leerstände, da die Bevölkerung schrumpft, und vor allem veröden die Dorfzentren“, erklärt das IW. Hinzu komme ein weiteres Problem für die Bürgermeister: Weil durch diese Zersiedelung die Infrastruktur der Gemeinden nicht mehr effizient genutzt wird, steigen die Kosten. „Auch sinkt die Attraktivität der Kommunen, wenn das Gebiet zersiedelt ist und allenthalben Gebäude leer stehen und verfallen“, schreiben die Forscher. Nach einer 2016 erschienenen Analyse des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung warten in Deutschland auf dem Land fast eine Million Wohnungen auf neue Bewohner.
Auf dem Land sinken die Preise
Und damit geht eine weitere Rechnung nicht auf: Mit der anhaltenden Landflucht und der schrumpfenden Bevölkerung – die Bevölkerung in Deutschland wird sich in Deutschland zwischen 2015 und 2030 voraussichtlich um mehr als 2,1 Millionen Menschen verringern – wird die Nachfrage nach Immobilien in bestimmten Regionen künftig noch stärker sinken. Ud damit sinkt der Marktwert von genau den Einfamilienhäusern, die viele junge Familien in Sigmaringen und auf der Ostalb, im Allgäu oder im Raum Tuttlingen in den neu ausgewiesenen Baugebieten an den Rändern der Dörfer bauen. Nach einer vor wenigen Wochen veröffentlichten Modellrechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin
„Wir haben ein Stadt-Land-Gefälle in der Bautätigkeit.“Stephan Kippes vom Immobilienverband Deutschland Süd
verringert sich der Marktwert von Ein- und Zweifamilienhäusern bis 2030 in einem Viertel aller deutschen Kreise und kreisfreien Städte um mehr als 25 Prozent, bei selbst genutzten Eigentumswohnungen ist das nach den Prognosen der Ökonomen sogar in einem Drittel aller Kreise der Fall. „Die schrumpfende Bevölkerung wirkt sich auch auf die Immobilienpreise aus – allerdings mit großen regionalen Unterschieden“, sagt DIW-Forscher Markus Grabkammer. Sprich: Ländliche Regionen werden stärker betroffen sein als Gegenden im Einzugsgebiet von Städten, der Osten wird es schwerer haben als der Süden Deutschlands.
In Baden-Württemberg und Bayern sorgen innerdeutsche Wanderungsbewegungen dafür, dass sich die Grenze zwischen boomenden Immobilienmärkten und Regionen, in denen die Preise künftig unter Druck geraten könnten, nicht mehr einfach zwischen Stadt und Land, sprich: zwischen Stuttgart und oberschwäbischen Dörfern wie Haiserkirch, ziehen lassen lässt. Grund dafür ist nicht zuletzt die Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Jobs, die im Südwesten im Gegensatz zu anderen Regionen nicht nur in den Städten und Metropolregionen entstehen, sondern auch in ländlichen Gebieten. Und dort, wo Arbeitsplätze entstehen, brauchen Menschen Wohnraum. Eine von der badenwürttembergischen L-Bank in Auftrag gegebene Studie des Forschungsinstituts Prognos hat jetzt den Zusammenhang zwischen Jobs und Wohnraumbedarf untersucht und prognostiziert auch in bestimmten ländlich geprägten Regionen eine steigende Nachfrage nach Wohnungen und Immobilien. So sei die Situation für Wohnungssuchende in Landkreisen wie Ravensburg, Böblingen und Rastatt schwierig, weil der sehr angespannte Wohnungsmarkt mit einer hohen Arbeitsplatzdichte einhergehe. Anders die Lage in Kreisen wie Sigmaringen, Waldshut oder dem Enzkreis – dort konstatieren die Prognos-Ökonomen einen entspannten Wohnungsmarkt mit unterdurchschnittlicher Arbeitsplatzdichte. Es sind die Regionen, in denen die Gefahr am größten ist, dass die Immobilienpreise bei einer schrumpfenden Bevölkerung in Zukunft unter Druck geraten werden.
Erleichterung im Baurecht
Und dort ist dann auch die Gefahr größten, dass die Bürgermeister junge Familien mit neuen Wohngebieten am Dorfrand in ihrer Kommune halten wollen. Eine Änderung im Baugesetz, die seit einigen Monaten gilt, erleichtert den Verwaltungen nun sogar noch die Ausweisung von neuen Bauplätzen. Mitte Mai ist das sogenannte vereinfachte Verfahren in Kraft getreten, es gilt für Areale, die nicht größer sind als 10 000 Quadratmeter und die direkt an eine Ortschaft anschließen. Vereinfacht heißt: Die Öffentlichkeit muss nicht frühzeitig eingebunden werden, Umweltprüfungen und Ausgleichsmaßnahmen für Natureingriffe können wegfallen. Während viele Kommunen die Novelle begrüßen, kritisieren vor allem Umweltverbände und Naturschützer die Neuerung. So ist Lidija Schwarz-Dalmatin vom baden-württembergischen Gemeindetag froh über die Vereinfachung. „Ich denke, dass die Änderung einen Anreiz bietet“, sagt sie. Der BUND Baden-Württemberg sieht in der Änderung das völlig falsche Signal. „Das öffnet einer Fehlentwicklung Tür und Tor“, sagt Referent Klaus-Peter Gussfeld. „Gerade die kleinen Gemeinden auf dem Land werden nach unseren Prognosen darauf zurückgreifen, um am Rand zu bauen.“
Egal, wie platzsparend die Einfamilienhäuser in den neuen Baugebieten auch sein werden, und egal, wie viele junge Familien durch solche Eigenheime auch in ihrem Heimatdorf gehalten werden können, ein Problem werden die neuen Häuser nicht lösen können: Sie werden die verfallenden Höfe und Gebäude in den Zentren der Dörfer nicht wieder lebendig machen. Dort werden die Glasscheiben in den Fenstern in Zukunft noch dreckiger und blinder werden.
Wo im Südwesten Wohnraumangebot und -nachfrage besonders stark auseinanderklaffen sehen Sie unter www.schwaebische.de/ wohnraum