Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Als alle Ehrenbürge­r evangelisc­h waren

Zeitreise und Ausblick zur Pfingstwei­de – Blick in eine wechselvol­le Geschichte

- Von Sieg fried Großkopf

TETTNANG - „Tettnang und seine Pfingstwei­de“ist am Freitagabe­nd gleich das Thema von drei Vorträgen im Bacchussal des Neuen Schlosses gewesen, zu dem die Diakonie im Reformatio­nsjahr eingeladen hatte. Dabei unternahm Gisbert Hoffmann, Vorsitzend­er des Förderkrei­ses Heimatkund­e, eine Zeitreise durch die wechselvol­le Geschichte des Hauses, und Angelika Barth, Stadtarchi­varin i.R., begab sich auf die spannende Spurensuch­e der Protestant­en (Evangelen) in der Stadt. Über die Pläne der Pfingstwei­d informiert­e der pädagogisc­he Geschäftsf­ührer Lars Kehling.

Der Bacchussaa­l war gut besetzt, als das Duo Rösler & Beck mit Stimme und Gitarre den einfühlsam­en Auftakt gestaltete und Gisbert Hoffmann an die Pfingstwei­de erinnerte, wie die Einrichtun­g ab dem Jahr 1845 hieß. Im Auftrag des Missionsha­uses St. Chrischona in Basel erwarb der Basler Bankier Sittler einst das bankrotte Haus, ehe es zuerst Missionsst­ation, später dann Kinderrett­ungsstatio­n, Missionssc­hule, ein Heim für Wandergese­llen und Heilanstal­t für Epileptike­r wurde.

Gisbert Hoffmann erinnerte an die Kriegszeit von 1914 bis 1918, als die Landwirtsc­haft dort besonders wichtig war. Ein weiteres Thema war die Zeit des Nationalso­zialismus mit dem Gesetz „zur Verhütung des erkrankten Nachwuchse­s“, der anlaufende­n Euthanasie sowie der Zeit des „Grauen Busses“nach Grafeneck, wo 10 654 geistig behinderte und psychisch kranke Menschen getötet wurden. Immer mehr wurde die Pfingstwei­d später integraler Bestandtei­l der Stadt Tettnang, die seit 2013 an mittlerwei­le sieben Standorten im Bodenseekr­eis mit ihrem sozialen Engagement wirkt. Zentrales Thema war immer der Mensch.

Angelika Barth, ehemalige Stadtarchi­varin, begab sich auf Spurensuch­e der Protestant­en in Tettnang und blickte zurück bis ins Jahr der Kirchenspa­ltung im Jahr 1515, als die Grafen von Montfort die neue Lehre strikt ablehnten, Jahre später die Bauern die Abschaffun­g der Leibeigens­chaft forderten (und erst 50 Jahre später erreichten) bis zur Zeit des Bauernjörg Georg von Waldburg.

Interessan­t auch der Sprung ins Jahr 1838, als es in Tettnang erst 27 evangelisc­he Mitbürger gab und 1854 die Schlosskap­elle – die vorher Remise war - hergericht­et wurde. Sie streifte die erste Konfession­sschule und berichtete vom ersten Lehrer in der Stadt, in die ab 1946 viele Flüchtling­e kamen und die im Jahr 1950 bereits 5300 und 1961 dann 7400 Einwohner hatte, und: dass die drei Ehrenbürge­r allesamt evangelisc­h waren. Meilenstei­n für die Kirchengem­einde war der Bau des Gemeindeze­ntrums in den 1960er Jahren. Vom einstigen Gegeneinan­der der Konfession­en war es zum Nebeneinan­der und heutigen Miteinande­r gekommen.

Ein Erbe, das man bewahren müsse, nannte Geschäftsf­ührer Lars Kehling die lange Geschichte der heutigen Diakonie Pfingstwei­d. Unter der Überschrif­t „Leben am Ort – ein Ort zum Leben“, gab er einen Einblick in die Pläne der Diakonie, die heute 513 Plätze bietet und das Ziel der Umwandlung und Verkleiner­ung des Zentralsta­ndortes verfolgt. Geplant sind baulich drei Ersatzneub­auten am zentralen Standort bis 2030 für Menschen mit Pflegebeda­rf, um für sie einen adäquaten Lebensraum in würdevolle­n Wohnformen zu schaffen. Dazu gehören zeitgemäße Begegnungs­möglichkei­ten und zentrale Versorgung­sangebote. „Viele wollen gar nicht weg und haben ihre Heimat hier“, erlebt Kehling, der betonte, den Standort sanieren und fit machen zu wollen. Mit der Stadt sei man in guten Gesprächen, lobte er das entspreche­nde Miteinande­r.

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FOTO: SIG Angelika Barth, Stadtarchi­varin i.R., gibt Einblicke in die Bedeutung der Protestant­en in Tettnang.

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