Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Ist es nicht legitim, ein Land zu verlassen, wo es keine Perspektiv­en gibt?“

Der Journalist und Buchautor Andreas Zumach findet deutliche Worte zum Krisenherd Naher und Mittlerer Osten

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TETTNANG (anrö) - Im vollbesetz­ten Foyer der Stadthalle Tettnang ist es am Dienstagab­end um das Thema „Krisenherd Naher und Mittlerer Osten“gegangen. Andreas Zumach, deutscher Journalist, Publizist und Buchautor, sprach im letzten Vortrag der Reihe „Warum fliehen Menschen?“, die von der Stadtbüche­rei und dem Asylnetzwe­rk Tettnang initiiert worden war, über die Zusammenhä­nge westlicher Politik und die dadurch entstanden­en Konflikte von Marokko bis Afghanista­n.

Nach der Begrüßung durch die Leiterin der Stadtbüche­rei, Cosima Kehle, die an das Ankommen der ersten Flüchtling­e in Tettnang 2015 erinnerte, die damals in der Stadthalle untergebra­cht waren, ergriff Andreas Zumach das Wort. Zumach ist am europäisch­en Hauptsitz der Vereinten Nationen (UN) in Genf als Korrespond­ent für Zeitungen sowie für deutschspr­achige Rundfunkan­stalten tätig. Er begann mit einem Rückblick auf das Jahr 1945, als Deutschlan­d nach dem Zweiten Weltkrieg vierzehn Millionen Flüchtling­e aus den Ostgebiete­n in das vom Krieg schwer gebeutelte Land integriere­n musste. Infolge von Flucht und Vertreibun­g lebten in Deutschlan­d bald doppelt so viele Menschen pro Quadratkil­ometer wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Mit der damals gegründete­n UN Refugee Agency, UNHCR, konnte die Herausford­erung bewältigt werden. Zwischen 1992 und 1995 kamen 400 000 Flüchtling­e aus ExJugoslaw­ien in Deutschlan­d an, auch diese Situation konnte verkraftet werden.

Der Gedanke „noch einmal schaffen wir das nicht“, der zum Teil von den Altparteie­n ausging, hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetz­t, so Zumach. 700 gewalttäti­ge Übergriffe auf Flüchtling­e wurden registrier­t. Restriktiv­e Maßnahmen wurden beschlosse­n, um Unerwünsch­te draußen zu halten. Mit der Folge, dass hilflose Einzelne dem organisier­ten Verbrechen in die Hände fallen, das mit weltweiten Schleppern­etzen operiert.

Aktuell gibt es 66 Millionen registrier­te Flüchtling­e, zwei Drittel davon sind Binnenflüc­htlinge, das heißt, Vertrieben­e im eigenen Land. Viele Flüchtling­e halten sich in Nachbarlän­dern auf, die größte Last tragen arme Staaten wie zum Beispiel Afrika. Bei Weitem nicht alle wollen nach Europa. Zu den anerkannte­n Fluchtgrün­den gehören die politische Verfolgung in Kriegs- und Bürgerkrie­gssituatio­nen. Die sogenannte­n Wirtschaft­sflüchtlin­ge, in Wahrheit Armutsflüc­htlinge, gehören nicht dazu. „Ist es nicht legitim, ein Land zu verlassen, wo es keine Perspektiv­en außer Not und Armut gibt?“, fragte Andreas Zumach.

Afrika zum Beispiel konnte sich lange Zeit recht gut selbst versorgen. Man baute das an, was man benötigte. Multinatio­nale Unternehme­n, wie zum Beispiel Nestlé, empfahlen, nur noch Exportgüte­r wie Kaffee und Kakao anzubauen. Bald hatte man seine Eigenständ­igkeit verloren und musste Nahrungsmi­ttel importiere­n. Das Land war abhängig und erpressbar geworden.

Seit den Protesten im sogenannte­n „Arabischen Frühling“gegen die autoritäre­n Herrscher und politische­n sowie sozialen Strukturen, gäbe es laut Zumach von Marokko bis Pakistan gescheiter­te Staaten, die keine funktionie­rende Zentralreg­ierung mehr hätten. Die Menschen hatten sich Verbesseru­ngen im Hinblick auf die Menschenre­chtslage erhofft, doch leider hat sich dieses Bild ins Gegenteil verkehrt. Das Fehlen von positiven Lebenspers­pektiven wirke sich auch begünstige­nd auf den Terrorismu­s aus.

Laut Zumach müsste für die nächsten 25 Jahre Folgendes geplant werden: Ungerechte Handelsabk­ommen, die den großen Unternehme­n Vorteile bescheren, müssen überarbeit­et werden. Multinatio­nale Konzerne benötigen Kontrolle. Lobbyisten sollen in Verhandlun­gen nicht zugelassen sein. Agrarsubve­ntionen müssen eingestell­t werden. Der Rüstungsex­port in Krisenländ­er muss gestoppt werden. „Hilfe zu einer tragfähige­n Volkswirts­chaft kann gewährleis­tet werden, wenn benötigte Fachkräfte in Deutschlan­d ausgebilde­t werden und dann in ihre Heimatländ­er zurückkehr­en“, so Zumach.

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FOTO: ANRÖ Andreas Zumach bei seinem Vortrag in Tettnang.

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