Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Sozialdemokraten in der Zwickmühle
SPD debattiert über alle Möglichkeiten – Kauder (CDU) plädiert für Große Koalition
BERLIN - In der SPD tobt eine Debatte, die auch Parteichef Martin Schulz gefährlich werden könnte. Die Sozialdemokraten ringen bei der Frage nach der Übernahme von Verantwortung um einen einheitlichen Kurs. Entgegen der ursprünglich von Schulz verkündeten Absage wird in der Partei wieder eine Neuauflage der Großen Koalition mit der Union in Betracht gezogen. Neuwahlen gelten zwar weiter als Option, aber auch die Möglichkeit, eine ausschließlich mit Unionsministern besetzte und von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) angeführte Minderheitsregierung zu tolerieren, sei ein Denkmodell.
Schulz sprach am Donnerstagnachmittag mehr als eine Stunde lang mit Bundespräsident FrankWalter Steinmeier. Von dem Treffen drang zunächst nichts nach außen. Der Bundespräsident, selbst einst SPD-Außenminister in der Großen Koalition, dürfte Schulz an die staatspolitische Verantwortung der Sozialdemokraten erinnert haben.
Dem Termin im Schloss Bellevue folgte eine Sitzung im Berliner WillyBrandt-Haus. Über die Ergebnisse werde die Partei laut Vize Thorsten Schäfer-Gümbel erst am Freitag informieren. Bei dem Treffen dabei war auch Sigmar Gabriel, einer der Architekten der Großen Koalition von 2013. Der Außenminister gilt als Freund einer Neuauflage. Denkbar sei, dass die Sozialdemokraten sich „ergebnisoffen“zu Gesprächen mit den anderen Parteien bereit erklären, hieß es in SPD-Kreisen.
Dass alle Optionen möglich sind, bestätigte SPD-Parteivize Ralf Stegner am Donnerstag im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Man wolle zwar „weder Neuwahlen noch eine Große Koalition“, gänzlich ausschließen wollte er beides nicht. Es gebe indes weitere Modelle, „zum Beispiel die Tolerierung einer Minderheitsregierung, Duldungsmodelle, befristete zeitliche Verabredungen oder wechselnde Mehrheiten“.
Die Union tendiert nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen eher zur Großen Koalition. So sagte Fraktionschef Volker Kauder (CDU) laut Medienberichten, er würde sich freuen, „wenn sich die bisherigen Partner in der Bundesregierung wieder zusammenfänden“.
BERLIN - Die SPD hat die Frage einer Neuauflage der Großen Koalition am Donnerstag auf verschiedenen Ebenen beschäftigt. Am Nachmittag war Parteichef Martin Schulz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfangen worden. Draußen blauer Herbst-Himmel, hinter den verschlossenen Türen von Schloss Bellevue der Krisengipfel. Schicksalsmomente für die Republik, Showdown beim Staatsoberhaupt.
Am Abend war die SPD-Spitze im Willy-Brandt-Haus zusammengekommen, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Alle Optionen müssten „in Ruhe“beraten werden, lautete die Botschaft von SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel. Erst am heutigen Freitag sollte die Öffentlichkeit informiert werden.
Klar ist: Von seiner Totalblockade, der kategorischen Absage an Gespräche mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) über eine neue schwarzrote Regierung war Schulz nach dem Appell von Steinmeier und massivem Druck aus den eigenen Reihen abgerückt. Der Parteichef zeigt sich plötzlich bereit zu „guten Lösungen für unser Land“.
Union umgarnt die Genossen
Die Union lässt an ihren Präferenzen keine Zweifel, umgarnt die Genossen nach dem brachialen Jamaika-Aus heftig: Er würde sich „freuen, wenn die bisherigen Partner in der Bundesregierung wieder zusammenfänden“, verkündete Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU), ein enger Merkel-Vertrauter, am Donnerstag. Gerade die großen Parteien hätten jetzt „eine besondere Verantwortung, dem Land eine gute Regierung zu stellen“. CSU-Chef Horst Seehofer sendete dieselbe Botschaft: „Ich denke, dass sich heute ein Stück Bewegung ergibt mit einer Regierungsbildung in Berlin“, machte er Druck auf Schulz, die Wende zur Neuauflage von Schwarz-Rot einzuleiten. Und Steinmeiers Botschaft war klar: Neuwahlen sind nicht im Interesse des Landes.
Schulz steckt in der Klemme. Die Genossen in Nordrhein-Westfalen sind strikt gegen die Große Koalition, Landeschef Michael Groschek warb erneut, die SPD solle eine Minderheitsregierung von Angela Merkel unterstützen. Auch SPD-Vize Ralf Stegner, Vertreter des linken Flügels, bleibt bei seiner Ablehnung: „Ein Weiter so in der GroKo ist nicht unser Wunsch und würde den Wählerwillen nicht respektieren“, sagte er im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“und errichtet schon mal eine hohe Hürde: „Eine Änderung der Parteibeschlüsse zur Absage einer neuen Großen Koalition – zu der ich nicht rate – wäre ohnehin ohne eine Beteiligung der Parteimitglieder nicht möglich.“
Das ist eines von Schulz’ Problemen: Das Nein zu Schwarz-Rot nach der Bundestagswahl am 24. September hat ihm Respekt und Rückhalt an der Basis gebracht, seine Machtposition gefestigt. Kippt er jetzt um, droht ihm der Gesichtsverlust – und das zwei Wochen vor dem Parteitag. Ob er das politisch überleben würde? SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach ist überzeugt davon, sollten die Bedingungen stimmen. „Wenn wir das Land in eine bessere soziale Verfassung bringen könnten und die Union ihre Abwehrhaltung aufgäbe, wäre eine Große Koalition denkbar“, sagte er. „Die Basis der SPD fragt nicht nach dem Etikett, sondern nach dem, was drin ist. Wenn wir der Partei etwas vorlegen könnten, wenn wir Kernanliegen wie die Solidarrente und die Bürgerversicherung umsetzen könnten, wird sich die Basis bewegen“, ist er sich sicher: „Wenn es tatsächlich ein gutes Angebot gäbe, würde Schulz das auch durchbringen können, daran würde es nicht scheitern!“Die entscheidende Frage sei, „ob Frau Merkel die Kraft hat, die sozialen Veränderungen, die für das Land und die SPD wichtig wären, durchzusetzen“, so Lauterbach. In den Jamaika-Sondierungen habe es der Kanzlerin an Autorität gefehlt, von ihr für richtig befundene Kompromisse durchzusetzen. „Wenn uns dies auch drohen würde, werden wir es nicht machen, dann wird es Neuwahlen geben“, legt sich Lauterbach fest.
Neuwahlen scheut Schulz inzwischen, denn eine erneute Kandidatur wäre kein Selbstläufer, zu stark sind inzwischen die Zweifel an seiner Führungsstärke und Überzeugungskraft. Die Tolerierung einer Minderheitsregierung wird von vielen Genossen wegen der drohenden politischen Instabilität skeptisch gesehen.