Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Opfer müssen diesen Status selbst wieder verlassen“

Jan Philipp Reemtsma spricht zu seinem 65. Geburtstag über die wichtige Rolle der Holocaust-Überlebend­en

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HAMBURG (dpa) - Bücher können nach Ansicht des Hamburger Literaturu­nd Sozialwiss­enschaftle­rs Jan Philipp Reemtsma die Welt nicht verbessern. Eigentlich. Doch eine besondere Textgattun­g, die Memoiren von Holocaust-Überlebend­en, habe dennoch sehr viel bewirkt. Aufzeichnu­ngen dieser Art hätten es auch Opfern ganz anderer Verbrechen ermöglicht, über das erfahrene Leid zu sprechen, sagt Reemtsma in einem Interview mit Bernhard Sprengel von der Deutschen PresseAgen­tur. Reemtsma, der 1996 selbst Opfer einer Entführung wurde, wird am Sonntag 65 Jahre alt.

Was leistet Literatur für den Menschen?

Nichts. Alles Mögliche. Sie ist da. Sie ist ein zentraler Bestandtei­l unserer Kultur. Unsere Kultur sähe anders aus ohne Literatur und das vielfältig­e Sprechen über Literatur. Zu fragen, was für einen Zweck hat das, ist müßig.

Ist das Schreiben von Literatur also sinnlos?

Oh nein, ich halte das für das beinahe Sinnvollst­e, was man überhaupt tun kann. Wenn man’s kann. Ich kenne meine Kollegen. Sie versuchen immer, die Beschäftig­ung mit Literatur als sozial nützlich hinzustell­en. Das hat manchmal Hochkonjun­ktur, wie in der 68er-Bewegung, als man meinte, man könne das Proletaria­t damit aufklären. Alles Kokolores. Die Menschen werden nicht besser durch Literatur. Aber: Was wären wir, wenn wir es ließen? – Dummköpfe.

Eine Form der Literatur halten Sie für besonders wichtig: die Memoiren von Überlebend­en des Holocaust. Warum?

Das hat sehr viel bewirkt, eine richtige kulturelle Umbildung, die wir in Ausläufern bis heute sehen. Dass das Opfer, nicht nur von den großen säkularen Verbrechen, sondern durchaus auch von alltäglich­eren Verbrechen, eine Stimme bekommt. Ohne die Opfermemoi­ren wäre die jetzige #MeToo-Kampagne nicht denkbar. Bis ins 20. Jahrhunder­t war das Opfersein etwas, wofür man sich schämte. Der erste Durchbruch ist mit den Memoiren derjenigen, die die Konzentrat­ions- und Vernichtun­gslager, später den Gulag, überlebt haben, Literatur geworden. Das ist historisch neu.

Welche Folgen hatte das?

Man hatte das Gefühl, die erzählen nicht nur eine schrecklic­he und bizarre Episode aus ihrem Leben, sondern sie sagen etwas, das für uns alle von irgendeine­r Bedeutung ist. Das hatte auch zur Folge, dass auch Opfer ganz anderer Verbrechen gehört wurden: Opfer von Kriminalit­ät, Frauen, die über Vergewalti­gung schrieben. Darüber sprach man früher eigentlich nicht. Auch diejenigen, die zunächst über Holocaust-Erfahrunge­n schrieben, mussten etwas wie eine Schamschwe­lle überwinden. Aber es gelang, und es bekam ein öffentlich­es Echo. Das bewirkte etwas wie eine allgemeine Veränderun­g des Blickes auf menschlich­es Leid. Auch die Wortmeldun­gen über sexuelle Attacken in Hollywood und anderswo, von denen wir lesen, wären so nicht erfolgt. So weit das in der Sache auch auseinande­r liegt.

Dürfen Opfer von Gewalt Rachegefüh­le haben?

Rachewünsc­he zu hegen ist in Ordnung, das ist eine normale Reaktion. Aber man darf sie nicht ausleben. Unser Rechtssyst­em erlaubt individuel­le Vergeltung nicht. Und entgegen mancher Annahmen: Der Strafproze­ss ist nicht dazu da, den Opfern Genugtuung zu verschaffe­n. Das kann das Strafverfa­hren nicht leisten und soll es auch nicht. Diese Wünsche werden notwendige­rweise frustriert.

Wie ergeht es einem Verbrechen­sopfer, das damit nicht klar kommt?

Wer sich sein Leben lang mit dem Unrecht beschäftig­t, das ihm angetan worden ist, und damit, dass es nicht zureichend wiedergutg­emacht worden ist, der läuft das Risiko, zum Querulante­n zu werden. Das ist nicht zu ändern. Menschen, die zu Opfern geworden sind, müssen diesen Status selbst wieder verlassen und dürfen ihr Leben so nicht definieren. Manchmal brauchen sie dazu Hilfe.

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