Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Die Kunst der Pflege
Eine kulturhistorische Ausstellung im Frauenmuseum Hittisau
HITTISAU - Schreiende Patienten, überfordertes Personal. Der Pflegenotstand ist in unserer Gesellschaft zu einem ernsten Problem geworden. Früher war es üblich, dass die bettlägrige Oma von Familienangehörigen betreut wurde, heute schiebt man sie ins Heim ab oder holt sich aus dem Ausland eine 24-Stunden-Pflegekraft. Ein wichtiger Grund dafür ist sicher die Doppelbelastung in vielen Familien mit Beruf, Haushalt und Kindern. Da hat man einfach keine Zeit mehr für die kranke Oma. Die neue Ausstellung im Frauenmuseum Hittisau im Bregenzerwald setzt sich mit dem Thema auf unterschiedliche Weise auseinander. Unter dem Titel „Pflege das Leben“geht es um Betreuung, Pflege, Sorgekultur und weibliche Klischees. Ein Parcours, der nachdenklich stimmt. Denn Pflege trifft jeden eines Tages – wie auch immer.
„Irgendwann willst du nicht mehr pflegen. Du gehst die zwölf Stufen hinunter, holst dir Kraft, mit Lesen, im Glauben oder wie auch immer. Und wenn du dich wieder gesammelt hast, gehst du die zwölf Stufen wieder hinauf, machst die Tür auf, nimmst die Mama in die Arme und machst das Beste draus. (...) Ja. Und das tagtäglich. Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Ich war rund um die Uhr da. Aber irgendwann habe ich es nicht mehr geschafft.“Mit diesen Worten erinnert sich eine Frau aus Vorarlberg an die vergangenen 20 Jahre, in denen sie erst ihren Vater und dann ihre Mutter gepflegt hat.
Ein Lexikon der Erinnerung
Geschichten wie diese haben die Hörbranzer Künstlerin Ines Agostinelli tief berührt und so entstand für die Schau in Hittisau die Idee eines Erinnerungslexikons. Die in zahlreichen Gesprächen eröffneten Perspektiven finden jetzt Ausdruck in Textfragmenten, Hör-Sequenzen und kleinen Skulpturen in Form von Kunstharz-Abgüssen. In jenem Fall ist es eine Treppe mit zwölf Stufen. Sie hängt zusammen mit anderen Objekten am Eingang an der Fensterfront. „Künstler schauen hinter die Dinge, sie beobachten, analysieren und provozieren oft zum Nachdenken“, sagt Kuratorin Stefania Pitschneider Soraperra. An sieben Stationen, die quer über den Saal verteilt sind, können die Besucher nun auf Stellwänden lesen, was Betroffene bewegt, sei es im Hospiz oder im Spital. Zeitgleich kann man sich die persönlichen Erlebnisse und Gedanken von weiblichen Pflegekräften und Gepflegten auch über Kopfhörer erzählen lassen.
Die Ausstellung ist vielschichtig angelegt und weitet den Blick. Sie nähert sich dem Thema Pflege nicht nur emotional wie im Falle des Erinnerungslexikons, sondern auch kulturhistorisch und gesellschaftspolitisch.
Im Zentrum steht die umfangreiche Sammlung der Maria Hagleitner, die erstmals öffentlich zu sehen ist. Hagleitner war Krankenschwester und lange Zeit stellvertretende Leiterin der Pflegeschule in Bregenz. Seit mehr als 30 Jahren sammelt die heute 76-Jährige interessante, aber auch kuriose Objekte aus Pflege und Medizin. Da gibt es ein chirurgisches Besteck für OPs im Feld von 1939, Urinflaschen für Frauen, die sich dann doch nicht durchgesetzt haben, oder einen raffinierten Liegestuhl zum Transport von Kranken. Die Funktion vieler Gegenstände erschließt sich erst durch Hagleitners Wissen und Erfahrung. In kleinen Videos erklärt sie Herkunft und den praktischen Einsatz einiger Objekte. Das ist spannend und manchmal unfreiwillig komisch.
Vom 19. Jahrhundert bis heute
Auch ein Abriss zur Pflegegeschichte inklusive kritischer Anmerkungen erwartet die Besucher. Er reicht von Reformerinnen wie Florence Nightingale (1820-1910) über Pflegekräfte, die sich in der NS-Zeit für die Euthanasie haben einspannen lassen, bis zum ambulanten Pflegedienst der Moderne. „Ziel ist, das heute noch gültige Klischee der weiblichen Pflege zu hinterfragen“, erklärt Pitschneider Soraperra. Also, ob Frau schon immer das ewig fürsorgliche Wesen war. Die Antwort lautet: Nein. Lange Zeit haben sich auch männliche Orden um Kranke gekümmert. Erst seit dem 19. Jahrhundert ist die Pflege weiblich. Besonderes Augenmerk wird auch hier auf regionale Bezüge gelegt. Ein Beispiel: Der Brief von Irma Eberle aus dem Bregenzerwald, die rückblickend beschreibt, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg als 16-jähriges Mädchen Wöchnerinnen betreuen musste – ob sie wollte oder nicht.
Was wichtig ist im Leben
Zeitgenössische künstlerische Positionen kommentieren und vertiefen schließlich aktuelle Themen wie Demenz oder den Pflegenotstand. Auf poetische Weise beschäftigt sich etwa Kirsten Helfrich aus Ravensburg mit elementaren Fragen wie: Was bleibt, wenn die Erinnerungen eines Menschen verblassen und die intellektuellen Fähigkeiten sich auflösen? In ihrer Installation „Ebbe“visualisiert sie den Prozess der langsam schwindenden Erinnerung. Das Wasser in den 300 Gläsern verdampft im Laufe der Ausstellung und hinterlässt Kalkränder.
Gerade die Kombination aus Dokumenten der Zeitgeschichte und Kunstwerken der Gegenwart macht diese Schau im Frauenmuseum so einzigartig. Zugleich stellt sie jede Menge Fragen: Was geschieht mit mir, wenn ich alt und gebrechlich werde? Wer ist für mich da, wenn ich nichts mehr geben kann? Was ist wirklich wichtig im Leben? Am Ende des Parcours steht ein Dialograum mit einem symbolischen Auffangnetz aus gespannten Fäden. Dort dürfen die Besucher ihre Gedanken hinterlassen, was sie zum Thema bewegt. Denn Pflege trifft jeden eines Tages.
Die Ausstellung „Pflege das Leben“im Frauenmuseum Hittisau im Bregenzerwald dauert bis
7. Oktober 2018. Öffnungszeiten: Mi. 14-17 Uhr, Do.-So. 10-17 Uhr,
24. Dezember 10-13 Uhr, 25. Dezember geschlossen. www.frauenmuseum.at