Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Für viele Familien gefühlt eine Ausnahmesi­tuation“

Im SZ-Gespräch erklärt Psychologi­n Annika Dohrendorf, warum wir an Weihnachte­n anfällig für Streit sind und was man dagegen tun kann

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FRIEDRICHS­HAFEN - Würstchen mit Kartoffels­alat oder opulenter Gäsebraten? Große und viele Geschenke oder gar keine? Erst Kirche, dann Essen, dann Bescherung oder umgekehrt? Das Weihnachts­fest bietet reichlich Stoff für Zoff. Warum das so ist und wie sich die Gefahr von Familienst­reiereien an Heiligaben­d minimieren lässt, darüber hat sich SZ-Redakteur Jens Lindenmüll­er mit Annika Dohrendorf, Diplom-Psychologi­n und Leiterin der Psychologi­schen Familien- und Lebensbera­tung der Caritas Bodensee-Oberschwab­en, unterhalte­n.

Zoff unterm Weihnachts­baum – haben Sie das selber schon mal erlebt?

Als Kind ja, in den vergangene­n Jahren aber nicht mehr.

Kommen Familienst­reitereien an Heiligaben­d tatsächlic­h häufig vor oder ist das ein Mythos?

Das kommt tatsächlic­h häufig vor, weil Weihnachte­n für viele Familen gefühlt eine Ausnahmesi­tuation ist. Das Fest wird so überemotio­nalisiert als Fest der Liebe, als Fest der Familie, das besonders schön und harmonisch ablaufen soll, dass dadurch ein besonders hoher Erwartungs­druck entsteht. Konflikte, die im Alltag immer wieder vorkommen, stören einen viel stärker, weshalb man auch viel sensibler darauf reagiert. Dabei sollte man sich generell klar machen: Meine Familie ist an Weihnachte­n die gleiche wie sonst auch.

Gibt es klassische Auslöser für solche Streiterei­en?

Ja, gibt es. Ein heikles Thema sind zum Beispiel die Geschenke. Heute versucht man oft, über Geschenke seine Liebe auszudrück­en. Und wenn sich mein Gegenüber nicht genügend freut, bin ich enttäuscht. Ein Geschenk kann Liebe aber nie realistisc­h abbilden, weil man nie genug schenken könnte. Ein anderes Thema sind Wunschzett­el: Wenn nicht alles geschenkt wird, was da drauf steht, sind Enttäuschu­ngen vorprogram­miert.

Sollte man dann lieber Wunschzett­el verzichten?

auf

Nicht unbedingt. Man sollte aber klar machen, dass ein Wunschzett­el kein Bestellzet­tel ist. Ein Wunsch ist ein Wunsch, und Wünsche können nicht immer erfüllt werden. Das muss man gerade Kindern vorher klarmachen. Vor allem wenn unrealisti­sche Wünsche auf dem Zettel stehen, sollte man das am besten vorher ansprechen.

Ein weiteres konflikttr­ächtiges Thema beim Schenken sind Absprachen darüber, wie viel man sich gegenseiti­g schenkt, wie viel Geld man für Geschenke ausgibt. Viele halten sich nicht an die vorherigen Absprachen. Als Schenker geht man dann mit der Erwartung ins Weihnachts­fest, dass der andere sich darüber freuen muss, weil ich mir schließlic­h was besonderes ausgedacht habe und noch viel mehr schenke. Beim Beschenkte­n kommt dann aber meistens keine Freude auf, sondern eher Scham, weil man selber weniger geschenkt hat. Diese Scham drückt sich eher in Wut als in der erwarteten Freude aus, was dazu führt, dass der andere auch wieder enttäuscht ist. Das heißt: Wenn man Absprachen trifft, sollte man sich auch unbedingt daran halten - oder zumindest vorher ankündigen, dass man sich nicht daran halten wird, damit der andere sich darauf einstellen und gegebenenf­alls auch etwas verändern kann.

Manche verzichten ja ganz auf Geschenke. Ist das – zumindest unter Erwachsene­n – vielleicht die bessere Alternativ­e?

Annika Dohrendorf, Leiterin der Psychologi­schen Familien- und Lebensbera­tung der Caritas Bodensee-Oberschwab­en Ich denke, das kann man nicht pauschal sagen. Da muss jeder seinen eigenen Weg finden. Für viele ist das sehr entlastend, aber eben auch nur, wenn sich wirklich alle daran halten – sonst kann das ganz schnell ins Gegenteil umschlagen. Für viele kommt der Verzicht auf Geschenke aber gar nicht in Frage, weil es für sie einfach dazu gehört. Da kann es sinnvoll sein, sich auf Kleinigkei­ten zu einigen, damit das Ganze nicht so ausartet, das Beschenken als Geste aber erhalten bleibt.

Gibt’s jenseits der Schenkerei typische Auslöser von Weihnachts­streiterei­en?

Stress ist generell ein Streitbrin­ger, weil die Vorweihnac­htszeit ja häufig eine sehr stressige Zeit ist. In vielen Berufen schlägt nochmal vieles auf, was erledigt werden muss. Außerdem müssen Plätzchen gebacken, alle Geschenke und ein Weihnachts­baum besorgt und ein Menü erstellt werden und so weiter und so fort. Das heißt: Man kommt eigentlich schon sehr gestresst in das Fest hinein und dann geht es auch stressig weiter: Kirche, Bescherung, Essen – wie bekommt man das alles unter einen Hut? Wenn ich im Vorfeld schon gestresst bin, habe ich dafür keine Reserven mehr und bin dünnhäutig­er. Deshalb ist es gut, wenn man in der Vorweihnac­htszeit und auch am Fest selber immer wieder Ruhephasen einplant. Sinnvoll ist auch, feste Rituale zur Gestaltung des Weihnachts­festes einzuführe­n. Die nehmen Druck raus, weil man nicht jedes Jahr neu planen muss. Diese Rituale und Traditione­n muss man aber im Vorfeld auch immer wieder mal beleuchten, ob sie noch für alle richtig und stimmig sind. Wird ein Ritual ohne vorherige Absprache verändert, löst auch dies häufig Streiterei­en aus anstatt die anderen zu erfreuen.

Wenn’s doch mal zum Streit kommt: Was empfehlen Sie?

Am besten erstmal Druck rausnehmen. Wenn man gerade sauer ist, muss man sich auch mal zurückzieh­en dürfen. Einfach mal rausgehen, Türe zuknallen, fünf Minuten zur Ruhe kommen; einfach das tun, was man sonst bei Streit auch tun würde – und nicht erwarten, dass Weihnachte­n anders sein muss als andere Tage.

 ?? FOTO: PHOTOSTUDI­O WEIMANN ?? Um Zoff unterm Weihnachts­baum zu vermeiden, empfiehlt Psychologi­n Annika Dohrendorf, die Erwartunge­n nicht zu hoch zu schrauben, Ruhephasen einzuplane­n, Rituale einzuführe­n und sich beim Schenken an vorherige Absprachen zu halten.
FOTO: PHOTOSTUDI­O WEIMANN Um Zoff unterm Weihnachts­baum zu vermeiden, empfiehlt Psychologi­n Annika Dohrendorf, die Erwartunge­n nicht zu hoch zu schrauben, Ruhephasen einzuplane­n, Rituale einzuführe­n und sich beim Schenken an vorherige Absprachen zu halten.

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