Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Der Weihnachtsengel
Ohne den Weihnachtsengel kann das Christkind nicht kommen.“Das behauptet zumindest die Heimstraß-Oma. Wir nennen sie so, weil sie in der Heimstraße wohnt. Das ist eine kleine Nebenstraße der berühmten Ulmer Olgastraße und nach einem früheren Oberbürgermeister benannt. Die HeimstraßOma ist im Übrigen meine Urgroßmutter und vor langer Zeit aus dem Altvatergebirge hierher gezogen. Im Augenblick kramt sie in allen Kisten und Schachteln, im Schrank und in der Kommode. Und sie ist dabei etwas ungehalten, um nicht zu sagen wütend.
„Wenn man nicht alles selber macht!“, schimpft sie, ohne den Satz ganz auszusprechen. „Wenn das Christkend in diesem Jahr nicht kommt – also, meine Schuld ist es nicht.“
Die Heimstraß-Oma hat den Christbaum aufgestellt und ihn mit Kerzen und Kugeln, mit goldenen Nüssen, mit Lametta und mit kleinen, roten Zieräpfeln geschmückt. Nur der Weihnachtsengel fehlte ihr. Und sie setzt sich in ihren Lieblingssessel und schnauft dreimal kräftig durch. Es scheint, dass sie nun nicht mehr wütend, dafür aber umso trauriger ist.
„Oma, was hast du?“, frage ich sie. „Willst du wissen, warum mir der Weihnachtsengel so fehlt?“, antwortet die Heimstraß-Oma mit einer Frage.
Ich will es wissen und nicke heftig.
„Dann erzähle ich dir jetzt eine Geschichte“, sagt sie und beginnt zu erzählen.
„Es war vor vielen, vielen Jahren. Ich war noch ein Kind, nicht älter als du und es war Heiligabend, so wie heute. Mein Vater, dein Urgroßvater, Gott hab ihn selig, hatte keine feste Arbeit damals und durfte nur gelegentlich bei den Bauern aushelfen. Für ein paar Mark, einen Laib Brot, für Brennholz oder für eine Fünfliterkanne Milch. Und meine Mutter hat mit Näharbeiten ein paar Pfennig dazuverdient. Wir waren also richtig arme Leute. Auf Weihnachten freute ich mich dennoch. Ganz so, wie du dich auf Weihnachten freust. Obwohl ich keine Geschenke erwarten durfte. Zumindest keine großen. Mein Vater hat dann am Morgen des Heiligen Abends einen Tannenbaum aus dem Wald mitgebracht, den er später mit Strohsternen und kleinen Kerzen geschmückt hat. Und plötzlich, ohne dass jemand von uns ihn zuvor gesehen hatte, hing er zwischen den Strohsternen.“„Wer?“, unterbreche ich sie. „Der Weihnachtsengel!“, antwortete die Heimstraß-Oma.
„Weder mein Vater noch meine Mutter konnten sich erklären, wie er in den Baum gelangt ist. Und während wir uns noch darüber wunderten, läutete es an der Haustür. Draußen stand Onkel Willi, der Bruder von meinem Vater. Er hatte für ihn und somit auch für uns die schönste Weihnachtsüberraschung dabei. Die Nachricht nämlich, dass er für meinen Vater eine richtige Arbeitsstelle gefunden hatte. Und natürlich hatte er ein Geschenk für mich dabei. Einen gelben Teddybär. Der arbeitet für die Post, hat Onkel Willi gelacht. Wir alle glaubten fest daran, dass der Weihnachtsengel uns dieses Glück beschert hatte. Und so legten wir ihn, als der Christbaum wieder abgebaut wurde, mit den Strohsternen in eine Kiste, die wir sorgsam verwahrten bis es wieder Weihnachten wurde. Trotz festlichem Schmuck, der später dazukam, trotz der elektrischen Kerzen, der Weihnachtsengel war das Wichtigste, was unseren Christbaum zieren durfte. Er sollte für alle Zeit unser Glücksbringer sein.“
Meine Urgroßoma schnauft einmal tief durch, ehe sie weitererzählt.
„Einmal, es war im letzten Kriegsjahr, da fehlte unser Engel. Er war einfach nicht aufzufinden. Es war das traurigste Weihnachtsfest, an das ich mich erinnere. Mein Vater war im Krieg. Unsere Stadt lag nach einem Bombenangriff in Schutt und Asche. Auch das Haus in dem wir wohnten, war beschädigt, aber es stand zumindest noch. Draußen war es bitterkalt und wir hatten kaum Kohlen, um wenigstens ein Zimmer richtig heizen zu können. Meine Mutter hatte einen winzigen Weihnachtsbaum, eine mickrige kleine Fichte, aufgestellt, aber darunter lagen keine Geschenke. Und zwischen den Strohsternen suchte ich vergebens den Weihnachtsengel.“
„Und wann ist er wieder aufgetaucht?“, hake ich ungeduldig nach.
„Am nächsten Heiligen Abend war er, wie ein Wunder, wieder da! Da hängte ihn mein Vater zwischen Christbaumkugeln und Lametta an den besten Platz, den es im Weihnachtsbaum gab.“
Die Heimstraß-Oma nimmt jetzt meine Hände in die ihren, drückt sie ganz fest und sagt: „Verstehst du jetzt, warum ich so verwirrt und