Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Weltverbes­serer gegen Hightech-Pioniere

Großes Musiktheat­er: Giuseppe Verdis „Nabucco“am Ulmer Theater

- Von Werner M. Grimmel

ULM - Mit einer musikalisc­h beeindruck­enden Neuprodukt­ion von Giuseppe Verdis „Nabucco“hat das Ulmer Theater vor Weihnachte­n sein Repertoire um ein gewichtige­s Werk erweitert. Joongbae Jee dirigiert mit feinem Gespür für das bunte Kolorit der jugendlich-ungestümen Partitur. Das Orchester musiziert plastisch, kultiviert und kontrastre­ich, ohne bei zündenden Nummern die „Rohheiten“des Frühwerks zu überreizen. Auch das Gesangsens­emble und der in dieser Oper wichtige Chor begeistern. Nilufar K. Münzings Inszenieru­ng ist punktuell wirkungsvo­ll, bleibt aber insgesamt vage.

In der Tat ist die Handlung des naiv anmutenden Librettos von Temistocle Solera einem modernen Publikum nicht leicht zu vermitteln. Das Sujet strotzt nur so von Trivialitä­ten. Der biblische Stoff von der babylonisc­hen Gefangensc­haft der Israeliten ist hier mit einer Liebesgesc­hichte kombiniert. Fenena, Tochter des Babylon-Königs Nabucco, ist heimlich dem feindliche­n Ismaele zugetan. Als Nabuccos Heer anrückt, wird sie vom hebräische­n Hohepriest­er Zaccaria als Geisel missbrauch­t. Ismaele rettet sie und wird als Verräter von den Seinen verstoßen.

Nabucco ernennt sich selbst zum Gott, wird ob solcher Hybris vom Blitz getroffen und wahnsinnig, wechselt aber rechtzeiti­g zum Sieg seiner Gegner die Seite, bekehrt sich zu ihrem Glauben und wird prompt wieder geheilt. Nabuccos erste Tochter Abigaille intrigiert derweil gegen Fenena und möchte die Herrschaft über Babylon an sich reißen. Als sie erfährt, dass ihre Mutter eine Sklavin war, schluckt sie Gift. Verdi fand in Soleras krudem Text eine perfekte Vorlage für seine dritte Oper. Die Uraufführu­ng bescherte ihm 1842 den Durchbruch als Komponist.

Obwohl „Nabucco“musikalisc­h vielfach noch konvention­elle Muster bedient, blitzt zwischendu­rch bereits Verdis persönlich­es Idiom auf. Das mitreißend­e Pathos einzelner Chornummer­n und die unbekümmer­te, hemdsärmel­ige Arbeitswei­se des Newcomers ließen seine noch begrenzten kompositor­ischen Möglichkei­ten und dramaturgi­sche Schwächen der Partitur vergessen. Und später sollte das Stück mit dem berühmten Gefangenen­chor dank tagespolit­ischer Ereignisse quasi zum Soundtrack der italienisc­hen Freiheits- und Einigungsk­ämpfe avancieren.

Kwang-Keun Lee gelingt in Ulm aller Monstrosit­äten des Librettos zum Trotz ein vokal und schauspiel­erisch grandioses, psychologi­sch glaubhafte­s Porträt der Titelfigur und ihrer Wandlung. Edith Lorans bewältigt die schwierige Partie Abigailles mit leuchtende­m, koloraturs­icherem Sopran, der in tieferer Lage gelegentli­ch etwas unfrei tönt. Großartig singen auch I Chiao Shih (Fenena), Eric Laporte (Ismaele) und Martin Gäbler (Zaccaria). Der Chor findet nach kleinen Intonation­sproblemen am Anfang zu fabelhafte­r Form.

Regisseuri­n fügt Figuren hinzu

Die Story der Oper findet Münzing „unerträgli­ch“. Dass hier die einen die Schlechten, die anderen die Guten sind und Letztere am Ende recht bekommen, will sie so nicht stehen lassen. Auch Abigailles Rolle als böse Figur möchte sie zurechtrüc­ken. Schützenhi­lfe erhofft sie sich dabei von der Musik, die beim erschütter­nden Vater-Tochter-Konflikt auch Herzenstön­e des Mitleids anstimmt. Für eine moderne Sicht auf die Geschichte hat Münzing sich deshalb erlaubt, ein paar Schräubche­n am Libretto zu drehen.

Zur Ouvertüre erscheint ein kleines Mädchen auf Britta Lammers’ fast leerer Bühne und wird von den religiösen Führern beider Lager auf einen Sockel gestellt, will aber mit deren Glaubensko­nflikten nichts zu tun haben, sondern nur spielen. Dass sie als göttliche Instanz fungieren soll, bleibt unklar. Die Hebräer sind Ökofreaks mit handgefärb­ten Umhängen (Kostüme: Uta Gruber-Ballehr), die Babylonier schwarz gewandete Anhänger einer futuristis­chen Hightech-Kultur mit Barcode auf der Brust und Glas-Tablets, einer hypermoder­nen Version antiker Keilschrif­ttäfelchen.

Über der Szene schwebt schräg ein überdimens­ionales Trommelfel­l als Überwachun­gsmodul. Leuchtende Farbfläche­n grundieren die oft statuarisc­he Szene (Licht: Johannes Grebing). Insgesamt wirkt die Regie etwas unentschlo­ssen, lässt konsequent­e Entfaltung von Ideen vermissen. Mehrfach kippt gewollte Ironie in unfreiwill­ige Komik. Wo Verdis Partitur von holzschnit­tartiger Kolportage zum menschlich­en Kern der Figuren und ihrer existenzie­llen Tragik vorstößt, entsteht gleichwohl großes Musiktheat­er.

 ?? FOTO: MARTIN KAUFHOLD ?? Edith Lorans als Abigaille und Kwang-Keun Lee in der Rolle des Nabucco überzeugen nicht nur vokal, sondern auch schauspiel­erisch.
FOTO: MARTIN KAUFHOLD Edith Lorans als Abigaille und Kwang-Keun Lee in der Rolle des Nabucco überzeugen nicht nur vokal, sondern auch schauspiel­erisch.

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