Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Pioniere der Luftfahrt-Forschung
Seit 110 Jahren wird in Göttingen das Fliegen untersucht
GÖTTINGEN (epd) - Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten Zeppeline und Flugzeuge in die Luft gingen, gab es viele Abstürze und andere schwere Pannen. Auch flogen bestimmte Modelle und Konstruktionen besser als andere, in der Luft schienen die Flugmaschinen unbekannten Einflüssen zu unterliegen. Aber welchen? Dieser Frage wollten Göttinger Wissenschaftler auf den Grund gehen. Vor 110 Jahren, Ende des Jahres 1907, gründeten sie die „Modellversuchsanstalt Göttingen“, einen Vorläufer des heutigen Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit Hauptsitz in Köln. „Das war die erste staatliche Einrichtung für Luftfahrtforschung in Deutschland“, sagt Jessika Wichner, Leiterin des Zentralen Archivs des DLR in Göttingen.
Initiator und Ideengeber der neuen Einrichtung war Professor Ludwig Prandtl, der 1904 als Direktor der Technischen Physik nach Göttingen berufen worden war. Unter seiner Leitung beschäftigte sich die Modellversuchsanstalt anfangs unter anderem mit der Frage, welche Form für Luftschiffe am besten sei. Prandtl erforschte die wissenschaftlichen Grundlagen zur Strömungsmechanik und zur Theorie des Tragflügels und wurde so weltweit zum „Vater der Aerodynamik“.
Göttinger Windkanal
1907 entwickelte der Physiker den Windkanal „Göttinger Bauart“, der im Gegensatz zu den damals üblichen Kanälen aus einem komplett geschlossenen Ringsystem bestand. „In Göttingen wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts die theoretischen und experimentellen Grundlagen gelegt“, sagt Wichner. Ohne diese sei die heutige Luftfahrt nicht denkbar.
Aus der Modellversuchsanstalt ging nach dem Ersten Weltkrieg die Aerodynamische Versuchsanstalt hervor. Göttingen sei damals „ein Magnet für die Pioniere der Luftfahrt-Forschung weltweit“gewesen, schildert Wichner die weitere Entwicklung. So arbeiteten hier unter anderem der ungarische Forscher Théodore von
Kármán, der später einer der wichtigsten Aerodynamiker der USA wurde, oder Hans Pabst von Ohain, Erfinder des ersten Strahltriebwerks.
In Göttinger Windkanälen wurden so revolutionäre Neuheiten wie von Rotoren angetriebene Schiffe oder „Nurflügler“getestet – das sind Flugzeuge ohne Höhenruder und ohne Unterscheidung von Flügel und Rumpf. Wegweisend war die Erfindung des Pfeilflügels, Standard bei fast jedem heutigen Flugzeug. Vor und während des Zweiten Weltkriegs ließen die Nationalsozialisten in Göttingen die Flugzeugmodelle der Brüder Reimar und Walter Horten testen – sie gelten als Vorbild für den amerikanischen Tarnkappenbomber B2 und für zivile Großraumflugzeuge.
Auch wurden in Göttingen in der NS-Zeit Techniken und Verfahren für Ortung, Kommunikation und Navigation mit elektromagnetischen Wellen erforscht. Bei Kriegsende erbeutete die US-Armee alle Geräte und Unterlagen und schaffte sie nach Dayton im Bundesstaat Ohio.
Das Deutsche Zentrum für Luftund Raumfahrt entstand 1969, damals noch unter dem Namen Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DFVLR) durch den Zusammenschluss mehrerer Einrichtungen. Seinen heutigen Namen erhielt es 1989. „Der Kern der Arbeit ist bis heute gleich geblieben“, sagt DLR-Sprecher Jens Wucherpfennig. „Die wissenschaftliche Suche nach den optimalen Flug- und Fahrbedingungen – egal ob von Flugzeugen, Raumschiffen oder Hochgeschwindigkeitszügen.“
Heute beschäftigt das gesamte Zentrum an insgesamt 20 Standorten rund 8000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In Göttingen sind es knapp 500 – sie arbeiten hier an den Flugzeugen, Raumschiffen und Hochgeschwindigkeitszügen der Zukunft. Vorstandsvorsitzende des eingetragenen Vereins ist seit 2015 die Astrobiologin Pascale Ehrenfreund. Damit ist das DLR die erste deutsche Großforschungseinrichtung mit einer Frau an der Spitze.
„Der Kern der Arbeit ist bis heute gleich geblieben.“
Informationen: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, Bunsenstraße 10, 37073 Göttingen Internet: www.dlr.de