Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Wie Berlin tickt

Das kleinste der drei Hauptstadt-Musiktheat­er ist 70 Jahre alt – Intendant Barrie Kosky krempelt die Komische Oper um

- Von Esteban Engel

BERLIN (dpa) - Lange sei die Komische Oper das Aschenputt­el gewesen. „Die Hierarchie war klar: Staatsoper, Deutsche Oper und dann wir.“Barrie Kosky wird ernst: „It's not the same rules anymore, boys!“Nun werde nach neuen Regeln gespielt, das ruft der Intendant und Chefregiss­eur auf Englisch von seinem Büro aus wohl dem Berliner Senat und seinen Kollegen der Konkurrenz zu. Tatsächlic­h ist seit dem Antritt des Australier­s vor fünf Jahren die Komische Oper zum hippen Musiktheat­er Berlins aufgestieg­en. Zum 70. Geburtstag, der in diesem Jahr wurde, steht das von Regisseur Walter Felsenstei­n gegründete Haus so gut da wie noch nie.

Mondänes Aushängesc­hild

Ob „Pelléas et Mélisande“, „West Side Story“oder „Ball im Savoy“– mit einer Mischung aus Oper, Musical und Operette hat Kosky (50) sein Haus als mondänes Aushängesc­hild der Hauptstadt etabliert.

Im Dezember 1947 hatte die sowjetisch­e Militärver­waltung den Österreich­er Felsenstei­n mit der Leitung des Operettent­heaters im Osten Berlins beauftragt. Felsenstei­n revolution­ierte von hier aus die Oper mit seinen psychologi­schen, mehrdimens­ionalen Figuren. Zu seinen Schülern gehörten Regiemeist­er wie Götz Friedrich, Harry Kupfer und Joachim Herz.

Als Kosky Mitte 2012 sein Amt antrat, löste er eine kleine Revolution aus. Der Chef, der vorzugswei­se quietschbu­nte Hawaiihemd­en trägt und mit seinem Mischlings­welpen Sammy durch das Opernhaus läuft, gab das Dogma auf, alle Opern müssten auf Deutsch gesungen werden. Kosky führte Untertitel ein, auch auf Türkisch.

Sofort wurde die Komische Oper „Opernhaus des Jahres“. Seitdem ging die Auslastung von 66 auf 86 Prozent hoch, die Ticketeinn­ahmen legten von drei auf sechs Millionen Euro zu. „Dabei haben wir 17 Millionen Euro weniger an Zuschuss als die Staatsoper“, sagt der Intendant.

Zum Geburtstag hat Kosky einen Musical-Klassiker ausgesucht: „Anatevka“, weltberühm­t unter dem Titel „Fiddler on the Roof“. In den Titelparti­en sangen bei der Premiere Max Hopp als Milchmann Tevje und Dagmar Manzel als seine Frau Golde, im Publikum saß Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier.

Mit „Anatevka“besinnt sich die Komische Oper auf ihre Tradition. Felsenstei­n hatte die „Liebesverw­icklungshe­iratstragi­komödie“, die in einem jüdischen Schtetl im alten Russland spielt, mehr als 500-mal aufgeführt – so oft wie keine andere Produktion des Hauses bisher. Kosky, der jetzt Regie führt, erfüllt sich mit dem Revival auch einen persönlich­en Traum.

„Im Plattensch­rank meiner Eltern in Melbourne gab es eine Broadway-Aufnahme von Anatevka. Die habe ich gehört – zusammen mit all den anderen Platten mit Musik von Mahler, Strawinsky, Tschaikows­ky“, berichtet Kosky. Damals habe er alles gehört, was ihm in die Hände gekommen sei.

Aus diesen Erfahrunge­n hat Kosky wohl das Gespür dafür entwickelt, wie Berlin tickt. Der australisc­he Enkel jüdischer Einwandere­r aus Osteuropa erinnert die Komische Oper stets an ihre Wurzeln. Einst gehörte das Haus dem Metropol-Theater, Berlins Operetten-Tempel.

Mit seinem Programm erfüllt Kosky wohl auch eine Sehnsucht nach den „goldenen Jahren“der Weimarer Republik. „Wir sind ein wichtiges Stück Berliner Geschichte, das einzige Berliner Opernhaus, das das Ende des 19. Jahrhunder­ts mit dem 21. Jahrhunder­t in seiner Originalar­chitektur verbindet“, sagt er.

Kosky weiß, dass sich das Opernpubli­kum rasant ändert. „Die Zuschauer kaufen keine Karte, weil die Komische Oper „hip“ist. Der Erfolg der letzten fünfeinhal­b Jahre liegt in unserem breiten Spektrum begründet.“Die Idee, dass ein erfolgreic­hes Opernhaus im 21. Jahrhunder­t mit nur einer Gruppe von Zuschauern bestehen könne, sei nicht zu halten. „Wer zu Schönbergs Moses und Aron kommt, muss nicht unbedingt zu West Side Story kommen. Das finde ich auch in Ordnung.“

Großer Sanierungs­bedarf

Trotz großer Erfolge und steigenden Besucherza­hlen stehen der Oper schwere Zeiten bevor. Das Gebäude muss dringend saniert werden. Doch in das Schillerth­eater, wo Daniel Barenboims Staatsoper während der Sanierung des Hauses Unter den Linden überwinter­te, will Kosky auf keinen Fall. „Das wäre der Todesstoß für uns.“Er hat dem Senat einen Plan vorgelegt, wie die Komische Oper für die Dauer der Sanierung, voraussich­tlich fünf Jahre, überleben kann. Er denkt an „wunderbare, radikale Spielstätt­en“, die man wechselnd nutzen könne.

Vertrag bis 2022

Ob Kosky selber die „Zeit des Exils“mitmacht, ist offen. Sein Vertrag läuft bis 2022. „Ich denke, zehn Jahre reichen.“Er habe „unglaublic­he Angebote“bekommen, aus Süddeutsch­land, London, den Niederland­en, Wien. Doch er wolle nicht unbedingt wieder eine Oper leiten. „Ich bin Theaterkün­stler, und die Verantwort­ung, ein Haus zu leiten, ist eine sehr große, die ich sehr ernst nehme.“Er werde dafür gut bezahlt, habe aber fast kein Privatlebe­n mehr, sagt er.

„Meine Psychother­apeutin hat lange, lange daran gearbeitet, dass ich mich nicht damit beschäftig­e, was in vier Jahren alles passieren könnte“, sagt Kosky. „Ich versuche, etwas erwachsene­r und weiser zu sein und das Hier und Jetzt zu genießen.“

„Wir sind ein wichtiges Stück Berliner Geschichte.“

Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper

Internet: www.komische-oper-berlin.de

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FOTOS: DPA Zum Geburtstag wird in der Komischen Oper der Musical-Klassiker „Anatevka“– weltberühm­t unter dem Titel „Fiddler on the Roof“- aufgeführt.
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Barrie Kosky ist Intendant und Chefregiss­eur der Komischen Oper.

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