Schwäbische Zeitung (Tettnang)
„Zweifel und Liebe aber, lockern die Welt auf...“
An dem Ort, an dem wir recht haben, werden niemals Bäume wachsen im Frühjahr. Der Ort, an dem wir recht haben, ist zertrampelt und hart, wie ein Hof.
Zweifel und Liebe aber, lockern die Welt auf, wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.
Und ein Flüstern wird hörbar an dem Ort, wo das Haus stand, das zerstört wurde.“(Jehuda Amichai)
Jehuda Amichai ist einer der meistgelesenen modernen israelischen Dichter. Er wurde 1924 als Ludwig Pfeuffer in Würzburg geboren, 1935 wanderte seine Familie mit ihm nach Palästina aus. Während des Zweiten Weltkriegs kämpfte er in der Jüdischen Brigade der British Army und nach Kriegsende im Palästinakrieg für die Unabhängigkeit Israels. Später wurde Amichai zu einem Anwalt des Friedens und der Aussöhnung im Nahen Osten und arbeitete eng mit palästinensischen Autoren zusammen. Er starb 2000 in Jerusalem.
Seine Lebensidee und sein Einsatz für Frieden und Versöhnung wird mir im Übergang vom alten Jahr in das neue Jahr 2018 Impuls und Anregung geben und das in einer Zeit der Polarisierung, des rechthaben Wollens, des Rechteinklagens und des eigenen Rechterkämpfens mit allen Mitteln.
Das Rechthabenwollen, sich im Recht-Fühlen, das Recht, mich zum Mittelpunkt zu machen, alles dranzusetzen für mich und meine Ziele, das gehört meines Erachtens zu den größten Gefahren unserer Zeit, im Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens, der Politik und auch im Bereich der Religion.
Sorgenvoll blicken viele von uns in diesen Tagen in die Zukunft. Mächtige in Moskau, Washington, Ankara oder Pjönjang halten die Menschheit in Atem. Deutschland findet keine Regierungskoalition. Die AfD sitzt im Bundestag. Die Kluft zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Der Klimagipfel lässt die arme Weltbevölkerung ratlos zurück, die reiche geht zur Tagesordnung über, Krieg und Vertreibung hören nicht auf. Die mangelnde Wertschätzung der Arbeitskraft des Menschen, die katastrophale Situation der Arbeitnehmer auch im Sozialen, besonders im Pflegebereich.
Die Deutung der Welt auf der Basis des Rechthabenwollens, im Bereich der Politik und des Glaubens genauso, das Agieren von Politikern auf der Basis des Machthabenwollens und des Stärkens der eigenen Interessen, die als Maßstab für ihr Handeln ihr eigenes Recht setzen, diejenigen, die Gott für ihre eigenen Ziele instrumentalisieren, um sich dann selbst groß zu machen.
Ich frage mich mehr und mehr, ob auch die sich so Sicheren, die sich im Recht wähnen, ob auch sie gelegentlich ins Zweifeln geraten? Jene, die so leben, als gäbe es keinen Gott, die felsenfest überzeugt sind davon, dass der Maßstab des Lebens, die Stabilisierung der eigenen Macht ist.
Ob sie eigentlich nie ins Zweifeln geraten, jene die so felsenfest davon überzeugt sind, dass es weder einen Gott noch einen Himmel geben kann.
Ob sie ins Zweifeln geraten, etwa wenn ein Kind geboren wird und wie sie vor dem stehen, was man ein Wunder nennen könnte? Oder wenn sie in einem Unglück bewahrt werden und das erleben, was man den Anflug eines Schutzengels nennen könnte? Nicht dass ich jemanden bekehren oder ihm ein triumphierendes „Siehst du!“entgegenhalten möchte. Mir scheint nur, dass Zweifel an der eigenen Ansicht einen Menschen warmherziger und einfühlsamer machen gegenüber denen, die anderes denken als er selbst.
Jeder Absolutheitsanspruch hingegen wirkt sich schädlich aus, sowohl der allzu überzeugten Gläubigen als auch jener der allzu sicheren Nicht-Gläubigen. Er verhärtet den, der ihn vertritt. Er macht intolerant, verbissen und oft genug auch militant. Er richtet Grenzen auf, statt sie abzubauen und bringt manchmal sogar Hass und Gewalt in die Welt. Darum ist es zu begrüßen, wenn Glaubende gelegentlich ins Zweifeln und Zweifelnde gelegentlich ins Glauben kommen.
Dass die Deutung der Wirklichkeit auf vielfältige Weise möglich ist, darüber wünsche ich mir Übereinstimmung. Dass Skepsis zu würdigen ist und Entwicklung zu begrüßen. Und eine Ökumene all jener Menschen, denen die Liebe das größte Gebot ist und Solidarität, die daraus folgende unablässige Konsequenz.
Den Ort, an dem Liebe und Zweifel ihren Platz haben, an dem wir lieben und in Solidarität miteinander in aller Verschiedenheit leben, diesen Ort wünsche ich den Menschen hier in Tettnang und an all den anderen Orten dieser Welt.