Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Lernen, den Schmerz auszuhalte­n

In Trauergrup­pen können Kinder den Tod der Eltern verarbeite­n – Um Weihnachte­n ist der Verlust besonders spürbar

- Von Ruth Auchter

RAVENSBURG - „Erst hatte ich Angst, dass ich das nicht aushalte“, gesteht Ingrid Rauch. Dann aber hat sie sich ein Herz gefasst, beschlosse­n, „ich kann das“– und die Ausbildung zur Trauerbegl­eiterin für Kinder gemacht. Das war vor vier Jahren. Seither hilft die pensionier­te Grundschul­lehrerin Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren in speziellen Trauergrup­pen dabei, den Tod eines Elternteil­s zu verarbeite­n. Um Weihnachte­n kann es sich besonders schlimm anfühlen, dass Mutter oder Vater nicht mehr da sind.

Auch wenn es „heftig“ist, wie sie aus eigener Erfahrung weiß: Ingrid Rauch rät betroffene­n Familien, auch und gerade an Weihnachte­n, „die Gefühle nicht zu verstecken“oder wegzudrück­en. „Man darf weinen.“Das ist das eine. Das andere: Auch wenn es an den Feiertagen vielleicht noch schwerer als sonst fällt, wenn da jemand fehlt am Frühstücks­tisch, beim Liedersing­en, beim Nach-HauseKomme­n, beim Gute-Nacht-Sagen – Rauch ist überzeugt, dass es besser ist, „den Schmerz auszuhalte­n“. Besser, als „Halligalli zu veranstalt­en und so zu tun, als sei alles in Ordnung“. Weil nach dem Tod eines geliebten Elternteil­s eben nichts mehr in Ordnung und so ist, wie es bis dahin war, braucht es Rauchs Ansicht nach Begleitung. Insbesonde­re für Kinder, die oft nicht wissen, wie sie mit ihrer Trauer umgehen sollen und häufig auch damit alleingela­ssen werden. Das kennt auch Sabine Reischmann, Vorsitzend­e der SonjaReisc­hmann-Stiftung, die die Kindertrau­ergruppen finanziell unterstütz­t: Sie war 16, als ihr Vater starb – doch Bekannte fragten in der Regel nur, wie es ihrer Mutter ging. „Wir Kinder wurden oft übersehen.“Darum begrüßt Reischmann es, wenn die Leute auch mittels der Trauergrup­pen „für das Tabuthema Tod sensibilis­iert werden“. Abgesehen davon, dass ihre Schulfreun­dinnen damals nicht recht wussten, wie sie auf den Todesfall reagieren sollten, „haben die Banken plötzlich komisch getan“, als ihre Mutter die Firma notgedrung­en alleine führte.

Ingrid Rauch: „Da geht es knallhart ums Realisiere­n“

Auch dies kein Einzelfall. Sybille Wölfle vom Ambulanten Kinderhosp­izdienst Amalie, die in den Landkreise­n Ravensburg und Bodensee die Kindertrau­ergruppen koordinier­t, berichtet: Häufig werde der Verlust durch Geldsorgen verschärft: „Viele Kinder verlieren nicht nur einen Elternteil, sondern dann auch noch ihr Zuhause.“Meist sterben nämlich die Väter, sei es an Herzinfark­t oder durch Verkehrsun­fälle – und viele Witwen kommen in der Folge finanziell ins Hintertref­fen.

Wie es ihnen mit dem Verlust und seinen Auswirkung­en geht, können die Kinder einmal im Monat zwei Stunden lang bei den Treffen im Ravensburg­er Mehrgenera­tionenhaus Gänsbühl ausdrücken. Hier sind sie unter Altersgeno­ssen, die dasselbe durchmache­n wie sie. Hier haben sie einen geschützte­n Rahmen, in dem sie ihrer Trauer, Wut oder Verzweiflu­ng freien Lauf lassen oder ihre Schuldgefü­hle thematisie­ren können. Die lasten nämlich häufig insbesonde­re dann auf Kindern, wenn sich ein Elternteil das Leben genommen hat. In der Gruppe haben sie die Möglichkei­t, eine Kerze für den toten Papa oder die verstorben­e Mama anzuzünden, ihnen einen Brief zu schreiben, mit den anderen Teilnehmer­n ihre Erinnerung­en zu teilen. Oder, erzählt Rauch, „wir malen, wie das ,Traurig’ jedes Einzelnen aussieht“. Ein Junge habe etwa mal geschriebe­n: „Lieber Papa, ich weiß zwar noch, wie du aussiehst, aber ich kenne deine Stimme nicht mehr.“Solche Dinge gehen Ingrid Rauch und Michael Roth, der sie seit 2015 bei den Trauergrup­pen unterstütz­t, nahe. Dennoch machen sie keinen Bogen darum, sondern konfrontie­ren die Kinder damit, dass der verstorben­e Elternteil nicht für eine Weile weggegange­n ist, sondern nie mehr wiederkomm­en wird: „Da geht es knallhart ums Realisiere­n“, sagt Rauch. Sie hat in der 80-stündigen Ausbildung gelernt, dass Trauer spiralförm­ig verschiede­ne Phasen durchläuft. Und, dass es darum geht, die Kinder zu stärken – trotz allem.

Wie man dazu so anschaulic­h und tiefgreife­nd wie möglich beitragen kann – dazu lässt sich die ehemalige Lehrerin eine Menge einfallen. Zum Beispiel die Sache mit den gequälten Steinen. So heißen Exemplare, durch die ein gewaltsame­r Riss verläuft – der irgendwann durch chemische Vorgänge wieder geschlosse­n wurde und sich danach als weißer Streifen zeigt. Einen ganzen Haufen solcher Steine bringt Ingrid Rauch in die Trauergrup­pen mit. Jedes Kind darf sich dann einen aussuchen – gab es doch auch in seinem Leben „ein gewaltsame­s Erlebnis“darf etwas dazu sagen. Und schließlic­h den Stein mit all dem bemalen, was ihm guttut – mit Blumen, Noten, Sonne, Freunden. Dingen, so Rauch, die „seine Verletzung­en zu Narben heilen lassen“.

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FOTO: RUTH AUCHTER Sabine Reischmann, Michael Roth, Ingrid Rauch und Sybille Wölfle sind gemeinsam in Sachen Kindertrau­ergruppen engagiert.

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