Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Der Genozid stellt eine kollektive Traumatisi­erung dar“

Der jesidische Psychologe Sefik Tagay über politische Uneinigkei­t, eine Völkergeme­inschaft vor der Zerreißpro­be und ein Stück Hoffnung

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RAVENSBURG - Sefik Tagay kam einst aus der Türkei nach Deutschlan­d, um hier in Sicherheit leben zu können. Als Professor für Psychologi­e gehörte er zu den Gründern der Gesellscha­ft Ezidischer Akademiker (Gea) in Essen. Mit Dirk Grupe sprach er über die Forderung nach einer Schutzzone für Jesiden und Aramäer im Nordirak, warum Deutschlan­d für Jesiden eine große Bedeutung besitzt und welche Rolle Bildung plötzlich spielt. Für den Hintergrun­d: Die Gea hat bei ihrer Namensgebu­ng auf die im deutschspr­achigen Raum verbreitet­e Schreibwei­se Yeziden beziehungs­weise Jesiden verzichtet und stattdesse­n die Schreibwei­se Eziden gewählt, weil diese sich an der kurdischen Selbstbeze­ichnung orientiert.

Herr Tagay, muss man sich aktuell Sorgen um die Jesiden im Nordirak machen?

Die politische Lage im Nordirak hat sich ja in den letzten sechs Monaten dramatisch verändert und ist deutlich instabiler als noch vor zwei Jahren. Die autonome Region Kurdistan musste sich von bestimmten Regionen zurückzieh­en, weil die irakische Regierung sie wieder ein Stück weit entmachtet hat. Erschweren­d kommt hinzu, dass die Jesiden in verschiede­ne Lager gespalten sind. Es gibt prokurdisc­he Lager, Barzani-Lager, Talabani-Lager, dann gibt es die PKK-Lager, jesidenspe­zifische Lager und irakische Lager. Wir haben jetzt viel mehr Spaltung.

Die Jesiden müssten also auch untereinan­der Einigkeit herstellen, um die Situation zu verbessern?

Richtig. Wo Spaltung ist, kann eine Gemeinscha­ft nicht wirklich etwas bewirken. Und wir hoffen nach wie vor, dass die Jesiden im Nordirak gemeinsam mit den assyrische­n Christen, mit den Aramäern, die Weltgemein­schaft davon überzeugen können, dass sie eine gemeinsame Schutzzone bekommen. Das ist eine Forderung, die seit Beginn des Genozids im Raume steht. Aber wir wissen, dass das nicht so einfach ist. Die Internatio­nale Gemeinscha­ft handelt ja auch nicht einheitlic­h.

Wie sicher sind denn die Menschen, etwa in Mossul?

Nach wie vor sind Minderheit­en völlig ungeschütz­t. Der irakische Staat ist ja noch weit entfernt von Stabilität. Seit der Befreiung von Mossul gibt es aber auch wieder eine Bewegung, dass Christen zurückkomm­en. Mossul war ja jahrtausen­delang eine Hochburg der assyrische­n Christen. Aber auch da höre ich immer häufiger, der Nahe Osten wird entchristi­anisiert so wie er entjesidis­iert wird. Es ist eine ganz zentrale Frage, ob die beiden jahrtausen­dealten religiösen Gemeinscha­ften überhaupt eine Zukunft im Nahen Osten haben.

Eine Rückkehr der Jesiden in ihre angestammt­en Gebiete, etwa ins Shingal-Gebirge, erscheint auf absehbare Zeit unwahrsche­inlich. Bieten die Flüchtling­scamps den Betroffene­n ausreichen­d Schutz?

Wir bekommen mit, dass wenn Jesiden und assyrische Christen mit Muslimen in den Camps zusammenko­mmen, es immer wieder Übergriffe gibt. Das ist ein ganz großes Problem, vor allem wenn sich stark fanatische Muslime unter den Flüchtling­en befinden. Deshalb sind wir froh, dass es auch Camps gibt, die überwiegen­d von Jesiden belegt sind, wie jene, die die „Schwäbisch­e Zeitung“unterstütz­t. Wir sind für diese Projekte und Hilfen sehr dankbar.

Die „Schwäbisch­e Zeitung“versucht auch, etwa im Flüchtling­s-

camp Mam Rashan, Angebote zum Arbeiten zu schaffen. Dennoch bleibt der Mangel an Arbeit ein Problem, oder?

Arbeit ist etwas ganz Zentrales für den eigenen Selbstwert, für die Existenzsi­cherung. Sie müssen sich vorstellen, die Menschen sind seit Jahren in den Camps und haben überhaupt keine Arbeit, weil die Regierung vor Ort völlig überforder­t ist. Die Beamten werden ja zum Teil monatelang überhaupt nicht bezahlt. Wie sollen dann die Flüchtling­e eine Arbeit finden?

In Interviews mit Camp-Flüchtling­en haben wir den Eindruck bekommen, dass ausgerechn­et die von der Landwirtsc­haft geprägten Jesiden aus Shingal viel für die Bildung ihrer Kinder tun. Ist das richtig?

Ein ganz wichtiges Thema. Die Jesiden aus Shingal sind überwiegen­d bildungsfe­rn. Das kann man im Allgemeine­n sagen, wenn man sie vergleicht mit Jesiden aus Syrien oder aus Armenien, wo es viele Akademiker gibt. Die Region wurde von der Regierung über Jahrzehnte sträflich vernachläs­sigt, deshalb ist das Bildungsni­veau recht gering. Aber jetzt beobachten wir etwas ganz anderes. Beispielsw­eise haben wir als Gesellscha­ft Ezidischer Akademiker­Innen seit drei Jahren ein Patenschaf­tsprojekt, bei dem wir jesidische Studierend­e an der Universitä­t Dohuk finanziell unterstütz­en. Und es gibt tolle Nachrichte­n darüber, dass jesidische Studierend­e, die tatsächlic­h in den Flüchtling­slagern leben, unter schwierigs­ten Bedingunge­n mit zu den besten Absolvente­n in den letzrund ten Semestern an der Universitä­t gehören...

… eine wichtige Entwicklun­g …

… ganz wichtig. Die Jesiden im Nahen Osten haben so gut wie nichts. Aber für sie ist es wichtig, dass ihre Kinder den Weg der Bildung ergreifen. Die jesidische Gemeinscha­ft ist seit Jahrhunder­ten mündlich vermittelt. Wir haben keine Art Schriftfas­sung wie die Bibel oder den Koran. Und jetzt gibt es diese Erkenntnis: Wir müssen in die Bildung investiere­n. Das gibt ein Stück Hoffnung.

Hierzuland­e haben die Jesiden diesen Weg schon früher eingeschla­gen. Welchen Stellenwer­t hat Deutschlan­d für die Jesiden?

Einen sehr großen. Von insgesamt etwa einer Millionen Jesiden leben 150 000 in Deutschlan­d, das damit für uns weltweit die größte Diaspora darstellt. Die ersten kamen in den 1970er-Jahren, überwiegen­d aus der Türkei. Seither beobachten wir einen rasanten Bildungsau­fstieg und auch sozialen Aufstieg.

Nimmt man die aktuelle Situation im Nordirak, würde es kaum verwundern, wenn es in Zukunft noch mehr Jesiden nach Deutschlan­d zieht?

Wenn es keine Stabilität gibt, keine Sicherheit, keine Zukunftspe­rspektive, dann ist klar, dass die Menschen schauen, wo sie sich in Sicherheit bringen. Und der größte Anker in der Diaspora für die Jesiden ist nun mal Deutschlan­d.

Was bedeutet dies für die jesidische Gemeinscha­ft hierzuland­e?

Im Nahen Osten waren die Jesiden überwiegen­d unter sich. Es war alles viel homogener. Hier in der Diaspora leben wir in der Vielfalt der Religionen und der Kulturen, hier haben wir schon die vierte, fünfte Generation an Jesiden, die sehr positiv integriert sind. Die auch zu Partnersch­aft und Heirat ein aufgeschlo­ssenes Verhältnis hat, aufgeschlo­ssener als jene Generation, die beispielsw­eise vor einem Jahr aus dem Nordirak herkam. Das stellt die Gemeinscha­ft vor große Herausford­erungen. Da prallen Generation­en aufeinande­r.

Sie sprechen dabei auch die strengen Heiratsreg­eln der Jesiden an…

… genau. Man ist Jeside, wenn beide Elternteil­e Jesiden sind. Es gibt keine Konversion, es gibt keine Missionier­ung. Aber, das zeigen unsere Umfragen, unter jenen Jesiden, die schon lange hier leben, sind etwa 25 Prozent für eine Öffnung der strengen Heiratsreg­eln, sonst können wir uns nicht erhalten, sagen sie. Und dann gibt es die anderen Jesiden aus dem Irak, die sehr stark religiös sind und sehr stark darauf pochen, dass Jesiden nur Jesiden heiraten.

Verschiede­ne Generation­en, verschiede­ne Lebenswelt­en, wie aber gehen die Jesiden insgesamt mit dem Genozid an ihrer Völkergeme­inschaft um?

Dazu haben wir geforscht, Daten erhoben und ganz klar festgestel­lt: Der Genozid ist an niemandem spurlos vorbeigega­ngen. Er stellt eine kollektive Traumatisi­erung dar. Und die Belastung ist enorm. Der JesidenGen­ozid 2014 wird noch viele Generation­en in ihrem Selbst- und Weltverstä­ndnis, in ihrem Sicherheit­sempfinden und ihrer Identität stark beeinfluss­en. Es bleibt zu hoffen, dass diese friedferti­ge Gemeinscha­ft auch diesen Genozid bewältigt und ihre kollektive Widerstand­sfähigkeit bewahrt.

 ?? FOTO: DPA ?? Ein Mädchen im irakischen Mossul im Juli 2017. Die seelischen Narben des Krieges werden noch lange bleiben.
FOTO: DPA Ein Mädchen im irakischen Mossul im Juli 2017. Die seelischen Narben des Krieges werden noch lange bleiben.

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