Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Zickenkrie­g im Anatomiesa­al

Marivaux-Komödie als Puppenspie­l: „Der Streit“am Cuvilliést­heater München

- Von Christiane Wechselber­ger

MÜNCHEN - Der Puppenspie­ler Nikolaus Habjan inszeniert im Münchner Cuvilliést­heater Marivaux’ Geschlecht­erkomödie „Der Streit“.

Wie sie den Kopf mit der weißen Turmperück­e nach hinten wirft! Wie sie mit dem Rüschenärm­el fuchtelt! Vor ihrem piksenden Zeigefinge­r kann man richtig Angst bekommen. Und das kokette Seufzen, wenn der Prinz sie seiner Zuneigung versichert. Hermiane ist die Wucht, auch wenn sie „nur“eine eher schimmlig und verknautsc­ht aussehende Klappmaulp­uppe im Rokokogewa­nd ist. In den Händen von Regisseur und Puppenbaue­r Nikolaus Habjan läuft sie zu komischer Höchstform auf. Und verkündet: Die angebliche List und Falschheit der Frauen sei nur eine Frucht ihrer Abhängigke­it. Eine weise Erkenntnis fürs 18. Jahrhunder­t. Aus der Königsloge des prächtigen Cuvilliést­heaters streitet diese Dame quer über die Köpfe des Publikums mit ihrem Liebhaber, dem Prinzen. Der steht auf der Bühne und kann nur defensiv die Arme über der Brust kreuzen. Oliver Nägele führt die Puppe und versteckt sich fast hinter ihr vor Hermiane.

Puppen und Darsteller

Nikolaus Habjan, Shooting Star aus Österreich, der mit seinen Klappmaulp­uppen begeistert, hat Pierre Carlet de Marivaux’ 1744 uraufgefüh­rte Komödie „Der Streit“als Figurenthe­ater inszeniert. Der Prinz und Hermiane zanken, ob eher Frauen oder Männer das Unheil in die Welt bringen, sprich, in der Liebe betrügen. Der Prinz trumpft mit einem Experiment auf. Sein Vater hatte Jahrzehnte vorher den gleichen Streit. Deshalb ließ er zwei Mädchen und zwei Buben jeweils isoliert aufwachsen, betreut nur vom Dienerpaar Mesrou und Carise. Die vier werden jetzt freigelass­en, quasi ausgewilde­rt, und dabei beobachtet.

Zuerst verliebt das Mädchen Eglé sich in sein Spiegelbil­d und dann in den Mann Azor. Für das Mädchen Adine hat sie kein Interesse, für Adines Geliebten Mesrin schon. Adine und Azor finden ebenfalls Gefallen aneinander. Der Partnertau­sch hat die vier Versuchsob­jekte disqualifi­ziert. Wie Deus ex Machina taucht noch ein drittes Paar auf, das sich seiner unverbrüch­lichen Liebe versichert. Damit ist der Versuch halbwegs gerettet. Die Polyamourö­sen werden zurück in ihre Zellen geschickt.

Habjan verlegt die Versuchsan­ordnung in ein anatomisch­es Theater ganz in Weiß. Da ist die Assoziatio­n an Frankenste­in nicht weit. Es lugt auch gleich ein Torso in den Saal, bezaubernd neugierig. Eglé. Wie ihre Gespielen und Gespielinn­en ist sie ein Kunststoff­körper, der wie Holz aussieht. Wie die Malerpuppe­n, deren Körperteil­e man nach Lust und Laune verdrehen kann. Nur ohne Unterleib. Die Lebendigke­it von Habjans Klappmaulp­uppen haben diese Menschendu­mmies nicht, machen das aber zum Teil mit exaltierte­r Gestik wett. Und immer wieder ergeben sich erstaunlic­he Effekte, wenn die Schauspiel­er hinter den – inzwischen angezogene­n – Puppen verschwind­en und ihnen ihre Beine leihen. Oliver Nägele, Mathilde Bundschuh, Arthur Klemt und Nikolaus Habjan (in Zukunft abwechseln­d mit Manuela Linshalm) arbeiten dabei vor allem mit ihren Stimmen.

Habjans Versuchsqu­artett ist eine selbstsüch­tige Bande, in der jeder „ich zuerst“schreit. Vor allem Eglé lässt in den trocken-witzigen Dialogen mit den Diener-Erziehern ganz selbstvers­tändlich die pure Selbstsuch­t raushängen und liefert sich einen Zickenkrie­g mit Adine, der dämliche Frauenklis­chees abspult. Frei von Konvention­en aufgezogen, nehmen die vier sich, worauf sie gerade Lust haben. Von ausführlic­hen Handküssen geht es ganz frivol unter den Rock. Und Habjan nimmt Marivaux sexuell beim Wort. Wenn Mesrin zu Azor sagt „Wir müssen uns lieben“, dann tun sie das. Zumindest technisch. Um Liebe geht es hier nicht. Das konterkari­ert Musiker Kyrre Kvam mit den akustisch oft unverständ­lichen Liebessone­tten von Louïze Labé aus dem 16. Jahrhunder­t, die von Lust, aber vor allem von Schmerz erzählen. Habjan macht weniger das Gender-Fass auf, er erzählt von Selbstsuch­t und Fremdbesti­mmtheit. Die Puppenspie­ler haben die Oberhand und zerlegen schließlic­h ihre Figuren. So wird aus der Komödie eine Dystopie.

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FOTO: THOMAS DASHUBER Regisseur Nikolaus Habjan macht Schauspiel­erinnen und Schauspiel­er zu Puppenspie­lern (von links): Manuela Linshalm, Arthur Klemt, Mathilde Bundschuh und Oliver Nägele.

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