Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Europa braucht starke Regionen

Winfried Kretschman­n sucht beim Jahresempf­ang im GZH nach Wegen aus der Krise

- Von Harald Ruppert

FRIEDRICHS­HAFEN - Es war eine nachdenkli­che Rede, die Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n beim Neujahrsem­pfang am Sonntag vor 2000 Besuchern hielt. Eine Rede, die sich kaum um das Unterhaltu­ngsbedürfn­is der Gäste scherte, sondern dicke Bretter bohrte.

Die Krise Europas nahm Kretschman­n darin in den Blick. In Sätzen, die sich mit dem für ihn typischem Nachdruck ins Gedächtnis­ses senken wollten und doch zugleich salopp blieben - auch durch ein Hustenbonb­on, das beim Reden für manchen kleinen Schmatzer sorgte.

„Für ein Europa, das Raum lässt für Heimat, ohne Separatism­us und Nationalis­mus auf den Leim zu gehen“, sprach Kretschman­n sich aus; und in einer solchen Heimatverw­urzelung mit Augenmaß sieht er denn auch einen Schlüssel, der Krise beizukomme­n. Ein solches Europa habe viel mit funktionie­rendem Föderalism­us zu tun. Um das zu illustrier­en, brauchte er nicht nach Spanien zu schauen - Kretschman­n besah sich das Verhältnis der deutschen Länder zum Bund. „Wenn die Länder stark sind, sind sie auch kooperatio­nswillig“, so Kretschman­n, der sich gegen eine Aushöhlung der Länderkomp­etenzen stellt; „gerade auch, wo der Bund mit Geld lockt, wie beim Thema Bildung“.

Wo die Bürger in ihrer Heimat ein „Nest“haben, da ist Europa weniger anfällig für radikale Alleingäng­e, ob nun auf nationaler oder regionaler Ebene. Als warnendes Beispiel führte Kretschman­n den Brexit an: Großbritan­nien drohe an internatio­nalem Einfluss zu verlieren und zugleich im Inneren auf die Größe Englands zusammenzu­schrumpfen. Mit Blick nach Ostereurop­a wiederum zeigte Kretschman­n, dass die EU nur auf der Basis gemeinsame­r Werte seiner Mitgliedst­aaten bestehen könne: „In Polen und Ungarn werden Institutio­nen geschliffe­n, die zum Kern unserer Werte gehören: die Presse und die Justiz.“

„Die offene Gesellscha­ft auf der Grundlage einer offenen Demokratie steht infrage“, folgerte Kretschman­n; in Gefahr sieht er sie auch durch eine Parallelwe­lt im Internet, in der sich Verschwöru­ngstheoret­iker tummeln. Nicht zuletzt EU-Kritik von deutscher Seite erteilte Kretschman­n eine Absage: „Ich kann das Gerede nicht mehr hören, dass Deutschlan­d am meisten in die EU einzahlt. Kann ja sein - aber wie bekommen auch am meisten zurück.“

Im präsidiale­n Stil

Anstoß an Kretschman­ns ausgewogen­er Rede im präsidiale­n Stil nahm wohl kaum jemand im GZH. Sie zählte auf, was als Konsens gilt: Europa müsse eine gemeinsame Verteidigu­ng aufbauen und gemeinsame Antworten auf Migrations- und Flüchtling­sfragen finden; der Klimawande­l müsse kraftvoll bekämpft werden, ebenso Steuerfluc­ht und Lohndumpin­g. Auf die Herausford­erungen des Industries­tandorts Friedrichs­hafen ging Kretschman­n nur knapp ein: „Die ZF ist im vielleicht tiefsten Umbruch, den die Automobilb­ranche je erlebt hat. Da muss man mutig vorangehen und sich etwas einfallen lassen, wie den Zusammensc­hluss mit TRW.“Kein Wort über den Rücktritt von ZF-Chef Stefan Sommer. Auch auf den Stiftungss­treit mit Brandenste­in-Zeppelins Klage gegen das Land Baden-Württember­g ging er nicht ein. Selten regte sich spontaner Applaus bei den Zuhörern – so, als Kretschman­n die Berliner Sondierung­sgespräche streifte: „Es wundert mich, dass sich der Wunsch ausgebreit­et hat, eher nicht zu regieren als zu regieren“, sagte der Ministerpr­äsident. Er forderte von den Parteien „Mut zu ungewöhnli­chen Bündnissen“und verwies auf seine eigene Regierung: „CDU und Grüne haben sich nicht gesucht, aber gefunden.“Persönlich ließ Kretschman­n tief blicken. „Ich bin ja gar kein Urschwabe“, gestand er, „wenn es so was überhaupt gibt. Meine Eltern kamen als Flüchtling­e aus Ostpreußen anch Schwaben“, führte er aus – und landete einen Lacherfolg: „Zu Hause haben wir Hochdeutsc­h gesprochen. Inzwischen hab’ ich das allerdings verlernt.“

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FOTO: FELIX KÄSTLE Winfried Kretschman­n auf dem Weg zum Rednerpult. In zwei Sälen verfolgten 2000 Besucher seine Ansprache im Graf-Zeppelin-Haus.

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