Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Ein satirisches Mahnmal für die Hütekinder
Wie Peter Lenks „Kindersklavenmarkt“ein Stück Ravensburger Stadtgeschichte erzählt – Skizzen legt der Künstler keine an
RAVENSBURG - Wenn der Bildhauer Peter Lenk an der Ravensburger Bachstraße unterwegs ist, mischt er sich allzu gern unter die Passanten und lauscht, was sie über seine Skulptur „Kindersklavenmarkt“sagen. „Das Denkmal ist sicher schon Hundert Jahre alt!“, ist einer der Kommentare, die Lenk dann hört. Ein anderer lautet: „Mindestens Hundert Jahre. Damals soll ja die katholische Kirche mit hiesigen reichen Bauern Kinder ausgebeutet haben.“Dabei ist die Figurengruppe keine 100, sondern gerade einmal 15 Jahre alt – und hat dennoch wie all die ironisch-boshaften Skulpturen des Bildhauers im Bodenseeraum für Diskussionen gesorgt.
Was auf den ersten Blick aussieht wie eine Zirkusnummer dreier Artisten, ist tatsächlich eine Polemik auf ein trauriges Kapitel der Ravensburger Stadthistorie: „Kindersklavenmarkt“heißt die vier Meter hohe Betonskulptur, die am Eckhaus des Juweliers Bartels befestigt und auch dessen Auftrag gewesen ist. Lenk jedoch hat nicht gleich zugesagt, sondern zunächst gezögert.
Weshalb? „Ich musste mich erst mit dem Stoff befassen“, erklärt er auf Anfrage der Schwäbischen Zeitung. So hat er sich mit dem beschäftigt, was bis ins Jahr 1914 hinein auf dem Wochenmarkt an der Bachstraße vor sich ging: Hier, vor dem einstigen Gasthaus „Zur Krone“, versammelten sich Jahr für Jahr im März die Kinder armer Bergbauern aus Tirol, Vorarlberg und Graubünden. Während des Markts wurden sie als Arbeitskräfte an die Bauern vermittelt, bekamen für das Hüten des Viehs und ihre Hilfe im bäuerlichen Haushalt neue Kleidung und einen Lohn ausgehändigt – und wurden in ihren Gastfamilien oftmals schlecht behandelt. Das Geld gaben sie an ihre Familien weiter, um diese zu unterstützen. Die Kinder waren bekannt als Hütekinder oder Schwabenkinder – ihre Geschichten sind in einer Ausstellung im Ravensburger Museum Humpisquartier eindrucksvoll nachgezeichnet.
Auch wenn es in dem von der Stadt Ravensburg herausgegebenen Führer über „Historische Stadtrundgänge“heißt, dass es sich beim Hütekindermarkt keineswegs um einen „sklavenähnlichen Verkauf der Kinder“gehandelt haben soll und dass Lenk diese Thematik „auf eigenwillige Weise“interpretiert hätte, deutet der Künstler die Historie auf seine Art. Dass ihn das Thema sehr interessiert, hat er bald gemerkt. Was ihn daran reizt: „Die katholische Kirche und ihre verklemmte Sexualmoral“, erklärt Lenk. „Die armen Bergbauern mussten jedes Jahr ein Kind bekommen, um nicht zu sündigen, konnten die Kinder aber nicht ernähren und mussten sie als Billigstarbeitskräfte in die Fremde schicken. Vorher noch verprügeln, damit sie kein Heimweh bekommen.“
Mit seiner Skulptur möchte Lenk diese ungerechte Geschichte anprangern. Dementsprechend hat der berühmt-berüchtigte Künstler seine Figuren auch gestaltet: Barfuß steht ein kaum bekleideter, abgemagerter Hütejunge an der Fassade. Er hält eine Stange wie ein Joch im Nacken, denn auf seinen wackligen Schultern muss er einen Knecht tragen. Der wiederum reckt wie eine Peitsche einen Stock in die Luft, als würde er den Jungen wie Vieh antreiben wollen, und würgt ihn nahezu mit seinen langen, dürren Beinen. Hoch oben auf den Schultern des Knechts thront ein wohlgenährter und elegant gekleideter Mann, der die Hände zum Gebet faltet und scheinheilig grient: ein Geistlicher.
Ohne Skizzen gestartet
Skizzen hat Peter Lenk für dieses Figurenensemble vorher nicht angelegt. Er hat die drei Figuren „positiv in Ton modelliert, dann eine Negativform aus Silikon mit Stützform aus Gips erstellt und diese mit in Epoxidharz gebundenem Kalksteinmehl oder Zement ausgegossen“, sagt er. Sechs Monate haben die Arbeiten an der Betonskulptur gedauert. Die Auftraggeber wollten mit der Arbeit an ihrem Haus einen „Beitrag zur Diskussion und Verarbeitung der Hütekinderbewegung“leisten. Für Gesprächsstoff sorgen wird die künstlerische Arbeit von Peter Lenk wohl auch noch, wenn weitere 15 Jahre vergangen sind.
„Die katholische Kirche und ihre verklemmte Sexualmoral.“
Ein Online-Dossier mit weiteren „Skulpturen in Ravensburg“finden Sie im Internet unter www.schwaebische.de/ skulpturen-ravensburg