Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Das neue Leben des Dominik Nerz
Im Oktober 2016 beendete der Wangener Radprofi mit nur 27 Jahren aus gesundheitlichen Gründen seine Karriere – jetzt kreiert er unter anderem Backmischungen
WANGEN - Oktober 2016: Schluss. Aus. Vorbei. Knall auf Fall beendete Dominik Nerz damals im Alter von gerade einmal 27 Jahren seine Radsport-Karriere. Eine Karriere, die ihn von Wangen zu den bedeutendsten Radrennen der Welt geführt hatte, unter anderem zweimal zur Tour de France und dreimal zur Vuelta à España. „Ich werde an meinem frühen Rücktritt noch lange zu knabbern haben“, sagte Nerz damals: „Weil mein ganzes letztes Leben weggebrochen ist.“
Jetzt, etwas mehr als ein Jahr später. Und ein neuer Dominik Nerz findet neue Worte: „Es geht mir viel, viel besser. Ich mache Riesenfortschritte!“
Den großen Masterplan hatte der heute 28-jährige Neuravensburger nicht in der Tasche, als er die Reißleine zog. Für viele kam der Rücktritt trotz zweier Jahre voller Rück- und Niederschläge überraschend. Für Dominik Nerz selbst war es die einzig mögliche Alternative zu jener Prognose, ansonsten gesundheitlich unterzugehen. Es war die Summe vieler Ereignisse, die acht Jahre Profiradrennsport, Erfolgshunger, das immer wieder zu frühe Zurückkehren, das Ausgemergelt sein, mit ihm gemacht hatten, die ihn zum Rücktritt brachten. Allen voran waren es aber jene Kopfschmerzen und Schwindelanfälle, resultierend durch die vielen Stürze auf den Kopf, die schließlich auch das Leben im Alltag zur Qual werden ließen.
„Ich habe immer gehofft, das renkt sich irgendwie wieder ein“, sagt Nerz heute. Doch nichts renkte sich ein. Mit zunehmender Dauer verkrampfte sich der damalige Profi des Bora-Teams, bei dem heute unter anderem auch die aus Ravensburg stammende deutsche Rundfahrthoffnung Emanuel Buchmann unter Vertrag steht, immer mehr: „Bei meinem letzten Rennen, dem Giro di Toscana im September, schwappte der Schalter bei mir dann um. Ich habe gemerkt: Ich bin völlig über dem Punkt – und tue mir und dem Team keinen Gefallen, wenn ich weitermache.“Seine Ärzte hatten schon länger versucht, ihm das zu erläutern. Der selbst gesetzte Druck, trotz Rippenbrüchen oder Gehirnerschütterungen, immer wieder weitermachen zu müssen, war bis dato aber stärker.
Als Kapitän zur Tour
Im Rückblick lässt sich sagen, dass Nerz’ Probleme schon 2015 eingesetzt hatten: „Ich bin nicht in Schwung und auch nie mehr auf mein Leistungsniveau gekommen.“Nerz trainierte „bis über den Schmerzpunkt“, war in den Wettkämpfen häufig im tiefroten Bereich. Was damals zu Ratlosigkeit führte, lässt sich heute ganz simpel erklären: „Es lag daran, dass die Verletzungen nie richtig auskuriert wurden.“Als Profi aber kennt man schließlich keinen Schmerz. Und andere stehen in den Startlöchern, um einen zu beerben. Der innere Schweinehund klopfte immer wieder auf die Schulter. Die Tour de France 2015, seine zweite nach 2012, wartete. Dieses Mal als Kapitän im Bora-Team. Auf der elften Etappe gab er schließlich mit Magenproblemen auf.
Getreu dem Motto „Was nicht sein darf, kann nicht sein“machte Nerz danach aber keine Pause, sondern einfach weiter. Doch sein Körper setzte sich zur Wehr. „Es war, als hätte man mir den Saft abgedreht, mich ausgeschaltet“, erinnert sich Nerz. Die von Radsportlern häufig gefürchteten Hungeräste wurden zum Dauerbegleiter, die Selbstsicherheit wich: „Ich war wie ein Auto im Safety-Modus, mit dem man gerade noch zur Werkstatt kommt.“Die Ärzte prophezeiten bleibende, gesundheitliche Schäden, wenn er nicht zur Vernunft käme. Nerz kämpfte mit sich selbst und der Diagnose: „Der Radsport war nicht nur ein Job. Er hat mein Leben bestimmt.“Ein Leben, aus dem er sich nun verabschieden musste.
Familie, Freunde, die Rad-Union als alter Verein, dem Nerz auch während seiner Profikarriere angehörte, wirkten als seelisch-moralische Stoßdämpfer und Stützen in einer anfänglich nicht ganz so einfachen Zeit. Doch auch neue Horizonte taten sich auf: „Dinge wie Skifahren, Skitouren gehen, Mountain- oder Downhillbikefahren, mal eine Nacht zum Tag zu machen oder essen, was nicht im Ernährungsplan steht. Dinge halt, die ich früher nicht machen konnte“.
Ganz bewusst ließ er sich Zeit für sein „Leben danach“, ist weggefahren und hat Freunde getroffen – ohne Druck und ohne Plan. „Es war schön zu sehen, dass einen viele nicht nur gemocht haben, weil man Radprofi war. Das hat extrem gut getan“, sagt er. Auch beruflich hat sich Dominik Nerz, der nach dem Abitur und dem Zivildienst bei der Stadt der Profikarriere wegen auf eine Ausbildung verzichtete, ausprobiert und umgesehen: „Ich habe mehrere kleine Projekte gestartet, um herauszufinden, was mir Spaß macht.“
Nerz kreierte gesunde Sport-Nahrungs-Backmischungen, die „dennoch schmecken“und irgendwann auch auf den Markt kommen sollen, fing an, T-Shirts zu designen und zu vertreiben und kümmert sich inzwischen in einer Wangener Osteopathiepraxis um Werbung und Marketing. Daneben lässt er von einem Autor ein Buch über sein Leben schreiben, das spätestens 2019 herauskommen soll. „Ich habe gesehen: ,Wenn du willst, kannst du auch was anderes’. Das hat mir Aufwind gegeben“, sagt er und strahlt Zufriedenheit und Ausgeglichenheit aus.
Mit seinem alten Leben hadert er nicht: „Die Zeit war wunderschön. Ich möchte keine Minute missen und bin stolz auf das, was ich erreicht habe.“Das neue Leben hat längst begonnen. Verbringen möchte er es auf Dauer auf jeden Fall in der Region. Dort, wo er zu Hause ist, sich zu Hause fühlt – und wo alles begann.