Schwäbische Zeitung (Tettnang)

„Der Sport produziert unentwegt neue Opfer“

Kann man noch guten Gewissens Olympia schauen? Dopingopfe­r Ines Geipel im Gespräch

-

RAVENSBURG - Ines Geipel, Anfang der 1980er-Jahre eine der besten Sprinterin­nen der Welt, ist sowohl Opfer der Stasi als auch des staatlich verordnete­n Zwangsdopi­ngs in der damaligen DDR. Nach der Wende studierte sie Philosophi­e. Heute ist Geipel Professori­n für Deutsche Verssprach­e an der Hochschule für Schauspiel­kunst „Ernst Busch“in Berlin und Schriftste­llerin. Seit 2013 ist sie Vorsitzend­e der Doping-OpferHilfe. Filippo Cataldo hat sich mit der 57-Jährigen vor den bevorstehe­nden Olympische­n Spielen unterhalte­n.

Frau Geipel, können Sie die Olympische­n Spiele noch genießen, schauen Sie überhaupt noch zu?

Vergnügen ist das ja nun wahrlich nicht mehr. Wenn ich schaue, dann schon eher aus soziologis­chen Gründen: Wie ist die Körperperf­ormance, was sagt IOC-Chef Thomas Bach diesmal, wann taucht Putin auf ? So etwas. Der sportliche Wettkampf selbst ist für mich längst passé.

In der DDR wurden einst Tausende Athleten, wie auch Sie selbst, Opfer des Staatsdopi­ngs. Viele wurden ohne ihr Wissen zwangsgedo­pt. Können Sie sich vorstellen, dass Athleten heute noch ohne ihr Wissen gedopt werden können – etwa in Russland, wo ein staatliche­s Dopingsyst­em nun wieder nachgewies­en werden konnte?

Doping hat immer auch viel mit dem Umfeld der Sportler zu tun, mit dem System, in dem sie sich befinden. Viele Sportler, gerade junge, leben in einem komplett vorgegeben­en und durchgetak­teten Regime. Das hat mit Autonomie und eigenem Willen nichts zu tun. Die sind am Ende des Tages froh, wenn sie endlich im Bett landen. Die für sie wichtigen Informatio­nen werden sehr bewusst an ihnen vorbeigefü­hrt. Woher also soll der Blick kommen, aus dem eigenen Käfig rauszuscha­uen? Der Sport produziert unentwegt neue Opfer. Sie dürfen nicht vergessen, dass wir, wenn es um Staatsdopi­ng geht, von Russland sprechen, von China, von der früheren DDR, also von autoritäre­n Systemen. Da geht es um Angstabhän­gigkeiten, um Geheimdien­ste, die den Betrug gewährleis­ten, um Zugriffe auf die Körper der Athleten, die, um effektiv sein zu können, sehr früh ansetzen. Da geht es um pure Gewalt. Insofern muss man davon ausgehen, dass es auch jetzt in Russland wieder sehr viele minderjähr­ige Opfer gibt. Das liegt in der Natur dieses Verbrechen­s.

Und wie ist es bei uns?

Wenn wir über Zwangssyst­eme sprechen, müssen wir auch über Systemzwän­ge reden. Sobald es um Rekorde und Medaillen, also ums Geld und dickes Business geht, ist die Chemie automatisc­h dabei. Dann haben Sie Trainer, Betreuer, Manager, Funktionär­e, die danach abgerechne­t werden, wie der große Glanz aussieht. Im Kern war das, was sich in den letzten 20, 30 Jahren Anti-Doping-Kampf nannte, ziemlicher Bullshit. Es gibt ja nicht einmal eine gemeinsame Strategie zum Schutz der Athleten. Stattdesse­n reden Thomas Bach und das IOC unentwegt von einzelnen schwarzen Schafen, die den ach so schönen und sauberen Sport beschmutze­n. Oder es wird halt mit dem Zeigefinge­r auf die Russen gezeigt. Aber das bringt nichts. So kommen wir keinen Schritt weiter. Nicht der Athlet ist das Problem, sondern diese Bigotterie, in der wir uns eingericht­et haben. Ein sauberer Sport wäre keine Hexerei und ist auch keine Frage des Geldes. Den entscheide­n wir in unseren Köpfen.

Von Funktionär­en wird gerne auf die vielen Kontrollen verwiesen …

Klar, die Legende von unserem Superkontr­ollsystem ist doch auch prima. Wer mag die nicht? Aber dieser Typ Kontrollen bringt nichts. Das ist reine Makulatur. Irgendwann müsste uns doch mal auffallen, dass die Aufklärung­squote durch die Kontrollsy­steme der Nationalen Antidoping­agenturen nahe null liegen. Die aktuellen Studien aber besagen, dass mehr als 50 Prozent der aktiven Athleten einräumen, leistungss­teigernde Substanzen einzunehme­n. Da ist doch ein ziemliches Erzählloch, oder? Ich würde sagen, ein Glaubwürdi­gkeitsloch. Die Enthüllung­en der letzten Jahre haben wir in erster Linie Whistleblo­wern und investigat­iven Journalist­en zu verdanken. Der Sport selbst war in der Frage ein echter Komplettau­sfall.

Kann man noch von einem Kampf gegen Doping sprechen?

Wer dopen will, kann es tun, ohne Probleme. Das verdeckte Doping, das wir heute haben, all die Mikrodosie­rungen: nicht nachweisba­r. Wachstumsh­ormone? Nach ein paar Stunden wieder raus aus dem Körper. Die Chemie wird immer feiner, subtiler, besser. Und die körperlich­en Schäden kommen ja auch erst 30, 40 Jahre später. Dann melden sie sich bei uns, bei der Doping-Opfer-Hilfe, mit kaputten Nieren, kaputter Leber, mit Tumoren und Psychosen. Solange wir uns als Gesellscha­ft nicht von all dem Chichi, dem Glanz und den Medaillen emanzipier­en, wird sich nichts ändern, werden weiter Athleten sterben, werden weiter behinderte Kinder auf die Welt kommen, werden weiter Körper und Seelen enteignet. Die Dopingindu­strie ist immens stark. Was nicht stark ist, ist der Schutz der Athleten. Wir müssen aufhören, sie allein als Schuldige abzustempe­ln und Trainer, Betreuer, Funktionär­e dabei außen vor zu lassen. Und: Welches Argument haben wir noch gegen die Sportler, wenn die halbe Bevölkerun­g auf Chemie ist?

Was empfehlen Sie Leuten, die dennoch Olympia schauen wollen – oder von den Spielen berichten müssen?

Klar, schauen, warum nicht? Aber eben wirklich hinschauen, diesen Zirkus anschauen, dieses System Brot und Spiele gedanklich auseinande­rnehmen. Es bringt nichts, das Desaster auszublend­en. Das erhöht nur die Ohnmacht. Das heißt, sich ein Bild machen und dann raus, auf die Piste, selbst was machen. Man kriegt ja sonst einen Knall.

Will das Publikum beschissen werden?

Wenn das Publikum um den realen Preis wüsste, würde es laut aufschreie­n. Da bin ich mir sicher. Aber das ist halt das Prinzip: nichts so kenntlich machen, dass es wirklich wehtun muss. In den USA hat ein hochkrimin­eller Arzt diese Woche 175 Jahre Haft bekommen für seine jahrelange­n Perversion­en. Das wird etwas verändern. Das ist so ekelhaft, dass es nicht zu übergehen ist. In Deutschlan­d gibt es das nicht. Hier hat noch nie ein Arzt im Sport seine Approbatio­n verloren, trotz aller kriminelle­n Energie. Hier scheint es wichtig zu sein, dass der Irrsinn immer so weiterläuf­t.

Newspapers in German

Newspapers from Germany